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Kurz notiert

26.11.2012
2023-08-30T12:17:42.7200Z
3 Min

Der Text auf dem Rücken des Buches verspricht viel. Die Rede ist von "der weltweit einzigen Großforschung, die sich über zehn Jahre interdisziplinär und vergleichend (...) der Transformationsforschung widmete". Gemeint sind Ergebnisse des Forschungsverbundes "Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch" der Universitäten Halle und Jena, die nunmehr als Zeugnis einer umfänglichen und überaus tiefgründigen Arbeit zu den Befindlichkeiten im vereinigten Deutschland vorliegen.

Eine leichte Lektüre ist das von dem Soziologen Heinrich Best (Jena) und dem Politologen Everhard Holtmann (Halle) herausgegebene Werk "Aufbruch der entsicherten Gesellschaft" nicht. Das liegt zuvorderst an der sprachlichen Präsentation, die wissenschaftlich exakt abgefasst ist, an dieser oder jener Stelle aber unnötig kompliziert daherkommt. Und doch lohnt sich die Lektüre ohne Einschränkung. Wer detailliert wissen will, wie Ost- und Westdeutschland seit der Wende zusammengerückt sind; wo es mehr als zwei Dekaden nach dem Fall der Mauer noch Unterschiede gibt; warum sich die Eliten in den alten und neuen Bundesländern annähern; welche Folgen die Arbeitsmarktpolitik auf die wirtschaftliche Entwicklung im Osten hatte; wie sich dort die Wahrnehmung von Lebensqualität geändert hat, wird auf fundierte Antworten stoßen.

Die Präzision, mit der gearbeitet wird, macht die Aussagefähigkeit der Texte unangreifbar. Auch bei unbequemen Erkenntnissen, die politische Auseinandersetzung provozieren. Wie etwa die These, in Ostdeutschland sei noch immer Unmut über den objektiv beachtlichen Zuwachs an Zivilisationskomfort spürbar, "weil ein Maßstab von Verteilungsgerechtigkeit angelegt wird, der sich mit wechselnder Blickrichtung entweder an einer zu DDR-Zeiten vorgeblich besser gewährten Grundsicherung oder (...) ausschließlich am westdeutschen Vergleichsniveau orientiert". Darüber mag gestritten werden. Aber: Der Debatte wird es gut tun, wenn der "Jammer-Ossi" den Weg vom Boulevard auf den Campus findet.

Heinrich Best, Everhard Holtmann (Hg.):

Aufbruch der entsicherten Gesellschaft.

Campus-Verlag, Frankfurt/M. 2012; 491 S., 39,90 €

Wer wegen des dem "Schlesierlied" entliehenen Titels "Wir sehen uns wieder, mein Schlesierland" revanchistische Auslassungen eines Heimatvertriebenen erwartet, wird sich bei der Lektüre getäuscht sehen. Vielmehr berichtet Peter Pragal, 1944 als Kind aus Breslau geflohen und Jahrzehnte später als DDR-Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung" und des "Stern" bekannt geworden, von seiner "Suche nach Heimat", wie es im Untertitel heißt.

Das Ergebnis ist mehr als eine stark autobiografisch geprägte, bisweilen sehr persönliche Schilderung älterer und jüngerer Zeitgeschichte mit besonderem Gewicht auf dem Schicksal der Vertriebenen und der aus kritischer Distanz beäugten Politik ihrer Funktionäre: Es ist auch ein Plädoyer für Verständigung und Versöhnung auf Basis gemeinsamer Wurzeln, ohne historische Schuld und Verantwortung zu verdrängen.

Als Peter Pragal im Jahr 1980 erstmals seit Kriegsende seine Geburtsstadt besuchte, war von gemeinsamen Wurzeln zu seiner Empörung keine Rede, als im Rathaus eine Museumsführerin die Geschichte "aus der damals üblichen kommunistisch-nationalistischen Sicht" schilderte: "Dass über Jahrhunderte in diesem Rathaus Deutsch gesprochen wurde, kam in ihrer Darstellung nicht vor", erinnert sich der Autor. "Wir schieden im Streit." Mehr als 30 Jahre später fühlt er sich im heutigen Wroclaw "als willkommener Gast, der seine Vaterstadt besucht", und bescheinigt der Oder-Metropole, ihr "historisches Gedächtnis wiedergefunden" zu haben, das auch das deutsche Erbe einbezieht.

Pragal erteilt nicht nur einseitiger Geschichtsbetrachtung jeder Art eine Absage, sondern spürt beim Umgang mit dem Reizthema Vertreibung verbindende Elemente auf. Breslau heute ist ihm "die alte Heimat, die nicht vergessen werden soll", Berlin seine neue, die "Wahlheimat". Und Schlesien, schreibt er, "wirkt als Brücke zwischen Polen und Deutschen, zwischen Menschen, denen das Land vor dem Krieg Heimat war, und Menschen, denen es danach zur Heimat geworden ist".

Peter Pragal:

Wir sehen uns

wieder, mein Schlesierland.

Auf der Suche nach Heimat.

Piper Verlag, München 2012; 385 S., 22,90 €