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Mandate nur für Sieger

GroSSbritannien Das rigorose Mehrheitswahlrecht verwandelt eine Minderheit der abgegebenen Stimmen in eine regierungsfähige Mehrheit

17.12.2012
2023-08-30T12:17:44.7200Z
3 Min

Das Wahlsystem für das britische Unterhaus ist leicht erklärt und schnell verstanden: Eine Stimme pro Wähler, ein Mandat pro Wahlkreis. Wer die meisten Stimmen bekommt, wird Wahlkreisabgeordneter. Die Stimmen der Verlierer fallen unter den Tisch. Mildernde Umstände wie in Frankreich, wo ein zweiter Wahlgang nötig ist, wenn kein Kandidat 50 Prozent der Stimmen erhält, gibt es auf der Insel nicht.

An Kritikern dieses rigorosen Mehrheitswahlrechts nach dem "First-past-the-post"- (FPTP) oder "Winner-takes-all"-Systems ("Alles für den Sieger") fehlt es nicht. Die "Electoral Reform Society" wirbt seit 1884 für ein Verhältniswahlrecht, das die Stimmenverteilung proportional im Parlament abbildet. Aber im Mai 2011 lehnten die Briten eine von den Liberaldemokraten erarbeitete und als "fairer" bezeichnete Alternative per Volksentscheid mit der klaren Mehrheit von 68 Prozent ab. Die Beteiligung am Referendum war mit 42 Prozent zwar gering, aber in der Diskussion wurde klar, was die Briten an ihrem Wahlsystem schätzen: Transparenz, Simplizität, ideologische Klarheit, die enge Verbindung zwischen Wahlkreis und Abgeordneten mit klaren Zuweisungen von Autorität und Rechenschaftspflicht.

Wahlsysteme sind ein Kompromiss zwischen der Repräsentativität des gewählten Parlaments und der Möglichkeit, die in die Regierung gewählten zur Verantwortung zu ziehen, schreiben die Professoren Simon Hix, Ron Johnston und Iain McLean in einem Bericht über Wahlsysteme für die British Academy. Entweder man hat eine umfassende und proportionale Abbildung der Stimmenverteilung wie beim Verhältniswahlsystem oder aber eben die klare Mehrheit einer Siegerpartei, die ihr Regierungsprogramm vor der Wahl definiert und an seiner Umsetzung gemessen wird. "Wir Briten sollten an der Möglichkeit festhalten, dass wir bei einer Wahl die Regierung feuern können", empfahl Premier David Cameron. Von derartig eindeutigen Wählerentscheidungen profitierten 1979 zum Beispiel Margaret Thatcher und 1997 Tony Blair. Die Briten sind über die gegenwärtige Koalitionsregierung auch deshalb irritiert, weil die Regierungspolitik weniger ein Wahlprogramm als vielmehr nach der Wahl verhandelte Kompromisse reflektiert.

Verzerrungen

Als "ungerecht" an dem System gilt, dass zum Beispiel 2010 ein schottischer Liberaldemokrat mit nur 26 Prozent der Wahlkreisstimmen ein Unterhausmandat errang. Labour gewann 2005 mit 35,2 Prozent der Stimmen eine Unterhausmehrheit, die Tories verfehlten 2010 die Mehrheit mit 36,1 Prozent - eine Folge der ungleichen Verteilung der Wähler auf die Wahlkreise. Liberaldemokraten erhielten für 23 Prozent der Stimmen nur 8,8 Prozent der Mandate.

Das rigorose Mehrheitswahlrecht kann also eine Minderheit der abgegebenen Stimmen in eine regierungsfähige Mandatsmehrheit verwandeln - zu Lasten kleiner Parteien, die weniger Stimmen in Mandate umwandeln. Großbritannien musste sich deshalb nie mit extremistischen Splitterparteien herumschlagen. Anhänger des Wahlsystems wie der frühere Labour-Minister Lord Reid weisen das Argument der Ungerechtigkeit zurück. "Jede Person hat eine Stimme, dies ist fair und gerecht." Die Hauptkritik am Alternativvorschlag der Liberaldemokraten war, dass mit übertragbaren Zweitstimmen Anhänger von Splitterparteien de facto eine zweite Stimme bekommen hätten.

Das Mehrheitswahlprinzip wurde schon benutzt, als König Eduard III. im 14. Jahrhundert Vertreter der Grafschaften und Städte in seinen Rat wählen ließ, das erste "House of Commons". Das Prinzip hat über Jahrhunderte das britische Zweiparteiensystem geprägt, den Antagonismus von Regierung und Opposition, die sich im Unterhaus frontal gegenüber sitzen.

Über der Partei

Kritiker betonen die höhere Konsensfähigkeit des Verhältniswahlsystems mit seinen Koalitionsbildungen. Aber die großen britischen Parteien sind in sich selbst "Koalitionen", in denen Konsens in einem demokratischen Prozess im Voraus hergestellt wird. Die Tories haben sich etwa von einer ursprünglich europafreundlichen zu einer vorwiegend europaskeptischen Partei gewandelt - auch unter dem Druck der Wählerbasis. Oft werden Parteikandidaten durch öffentliche Vorwahlen bestimmt.

Vor allem stellt das "Winner-takes-all"-System aber den Wahlkreisabgeordneten über die Partei. Der Abgeordnete verdankt seine Wahl seiner Persönlichkeit, nicht einem Listenplatz, er ist erst seinem Gewissen, dann seinen Wählern und erst in letzter Instanz seiner Partei Rechenschaft schuldig.

Der Autor ist freier Korrespondent in London.