Piwik Webtracking Image

Freiheit oder Verantwortung

PATIENTENRECHTE Umstrittenes Gesetz ermöglicht erneut Zwangsbehandlung psychisch Kranker

21.01.2013
2023-08-30T12:23:51.7200Z
4 Min

Die Anordnung und Durchführung ärztlicher Zwangsmaßnahmen sind künftig in Deutschland wieder möglich. Einen entsprechenden Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen (17/11513) hat das Bundestagsplenum vergangenen Donnerstag verabschiedet.

Stephan Thomae (FDP) betonte, dass die Zwangsbehandlung ausschließlich "als letztes Mittel" eingesetzt werden dürfe. Als Beispiel nannte er den fiktiven Fall eines Betroffenen, der eine Dialyse benötigt, diese aber ablehnt, weil er wahnhaft denkt, sie sei vergiftet. In einem solchen Fall müsse eine Zwangsdialyse durchgeführt werden, sagte der Liberale.

Sicherheitsfilter

Im Prozess des parlamentarischen Beratungsverfahrens, im Rahmen dessen auch eine öffentliche Expertenanhörung stattgefunden hatte, habe der Bundestag "Sicherheitsfilter" in das Gesetz eingebaut, so dass die Zwangsbehandlung wirklich nur als sogenanntes letztes Mittel greife, betonte Thomae. Arzt und Betreuer müssten ohne Druck den Betreuten "von der Notwendigkeit der Maßnahme" überzeugen. Zudem müsse ein "Verfahrenspfleger eingeschaltet werden, der die Interessen des Betroffenen wahrnimmt". Überdies werde es ein Vier-Augen-Prinzip geben, demzufolge zusätzlich zum behandelnden Arzt ein Gutachter hinzugezogen werden müsse. Bei Zwangsmaßnahmen, die länger als zwölf Wochen dauern, müsse schließlich ein "externer Gutachter, der nicht der Einrichtung angehört" konsultiert werden, erklärte Thomae weiter. Und schließlich müsse zwingend ein externes Gutachten erstellt werden, das die Notwendigkeit der Behandlung begründet.

Rechtslücke

Im Sommer 2012 hatte der Bundesgerichtshof auf Klagen zweier Betroffener hin entschieden, dass Zwangsbehandlungen in Deutschland unzulässig sind. Eine gesetzliche Grundlage fehle, hieß es damals. Seither konnten keine derartigen Maßnahmen mehr angeordnet werden. Bis zum vergangenen Donnerstag: In zweiter und dritter Lesung wurde der Gesetzentwurf beraten und mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU, FDP und SPD gegen die der Linksfraktion und bei Enthaltung der Bündnisgrünen angenommen.

Die Expertenanhörung am Ende des vergangenen Jahres musste unterbrochen werden, weil ein Dutzend Menschen lautstark gegen den Regierungsentwurf protestiert hatten. Einige Besucher, die nicht auf die Aufforderung, sich ruhig zu verhalten, reagierten, mussten vom Sicherheitsdienst aus dem Saal gebracht werden. Bei den Demonstranten handelte es sich um Betroffene und um Angehörige zwangsbehandelter Menschen. Etwa 1,2 Millionen Menschen werden hierzulande jährlich stationär in psychischen Einrichtungen therapiert, jeder zehnte gegen seinen Willen.

Sonja Steffen (SPD) sagte in der Debatte, Angststörungen, Sucht, Psychosen und Depressionen könnten jeden treffen. "In solchen Situationen wünsche ich mir behutsame und kompetente Ärzte, die mit Einfühlungsvermögen für mich entscheiden", erklärte Steffen. "Damit man bald wieder ein gesundes, selbstbestimmtes Leben führen kann." Der vorliegende Gesetzentwurf sei ausgewogen und schaffe den "Ausgleich zwischen dem Recht auf freie Selbstbestimmung und dem Schutz vor erheblicher Selbstgefährdung". Allerdings, räumte die SPD-Politikerin ein, müssten zu allererst die Lebensbedingungen aller verbessert werden, "damit die Menschen gar nicht erst krank werden".

Auch Thomas Silberhorn (CSU) sprach sich für den Gesetzentwurf aus. Die ärztlichen Zwangsmaßnahmen würden aber die Ausnahme bleiben, versprach er. Ein Betroffener müsse ja zuerst "von einem Gericht eingewiesen werden". Bevor es überhaupt so weit komme, müssten "alle milderen Mittel ausgeschöpft werden", sagte Silberhorn weiter. Außerdem müsse das Gericht ihn persönlich anhören, um sich selbst ein Bild zu machen. Im begründeten Ausnahmefall aber, erklärte er ein Detail des Entwurfes, dürfe der externe Gutachter durch einen internen ersetzt werden; beispielsweise im ländlichen Raum.

Ruhigstellen

Jörn Wunderlich (Die Linke) sagte, es werde an keiner Stelle deutlich, dass ärztliche Zwangsmaßnahmen in jedem Fall zu vermeiden sind. Es stehe auch bloß die Formulierung im Gesetzestext, dass versucht werden müsse, den Betroffenen von der Notwendigkeit der Behandlung zu überzeugen. Wie genau das aber aussehen solle, "steht da aber gar nicht drin", erklärte er. Das sei der Linksfraktion jedoch sehr wichtig. Außerdem gehe es nicht primär um Blinddarm-OPs, sondern um die Verabreichung von Psychopharmaka. "Psychopharmaka heilen ja nicht", sagte Wunderlich abschließend, "sondern sie stellen ruhig."

Ingrid Hönlinger (Bündnis 90/Die Grünen) betonte, dass die Koalitionsfraktionen das Gesetz sehr schnell auf den Weg bringen wollten. Aber das parlamentarische Beratungsverfahren habe den Entwurf verbessert. Nun erst erfülle "das Gesetz die strengen Bedingungen des Bundesgerichtshofs, aber noch nicht vollständig", sagte Hönlinger an die Initiatoren gerichtet.

Die Grünen-Abgeordnete kritisierte aber unter anderem, dass der Gutachter in der gleichen Einrichtung arbeiten dürfe, in der der Betroffene behandelt werde. Arzt und Sachverständiger müssten ihrer Meinung nach aus unterschiedlichen Einrichtungen stammen, damit es keine Interessenskollisionen geben könne. Hönlinger forderte darüber hinaus einen sensiblen Umgang mit diesen Menschen in schwierigen Lebenssituationen.

Patientenverfügung

Nicht zuletzt der Fall Gustl Mollath schürt die Angst vor Zwangseinweisungen und -behandlungen. Seit 2006 ist er in der Psychiatrie, weil er Banken Schwarzgeld-Geschäfte vorgeworfen hatte. Richter und Gutachter urteilten, er sei paranoid. Nun scheinen sich seine Vorwürfe zu bewahrheiten. Mollath bemüht sich um ein Wiederaufnahmeverfahren.

Gegen Zwangsbehandlungen kann allerdings eine Patientenverfügung Schutz bieten. Wer diese im gesundem Zustand erstellt, kann nicht gegen seinen Willen behandelt werden. Dank einer fraktionsübergreifenden Initiative ist sie seit 2009 gesetzlich verankert.