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Gefangen im Haifischbecken

Finanzberatung I Anleger fühlen sich oft im Stich gelassen. Für manche öffnet sich eine Schuldenfalle

25.03.2013
2023-08-30T12:23:57.7200Z
6 Min

So also sieht ein Schuldenberg aus. Etwas scheu schaut Anna (Name geändert) ihn an, als überragte er alles. Dabei presst sich dieser Berg in einen einzigen Aktenordner. Bettina Heine öffnet ihn und studiert das erste Blatt, darauf ein Beschluss des Amtsgerichts. "Ihr Verbraucherinsolvenzverfahren wurde eröffnet", liest sie vor. "Gab es schon einen Termin für die Forderungsfeststellung?" Anna stockt. "Nicht dass ich wüsste", sagt sie, "das hätte ich mitgekriegt." Bettina Heine nickt zweimal mit dem Kopf. "Kein Problem, rufen Sie mal bei Ihrer Treuhänderin an." Anna schaut erleichtert, sie lehnt sich zurück - hier bei einem Checktermin in der Schuldner- und Insolvenzberatung Charlottenburg-Wilmersdorf in Berlin.

Hohe Konsumausgaben

Anna, 29, macht sich mit Hilfe ihrer Beraterin Bettina Heine auf den Weg zu schwarzen Zahlen. Sie sagt: "Ich lebe jetzt bewusster und gewissenhafter." Das war nicht immer so, sie hatte ein Ausgabenproblem. "Ich habe immer gearbeitet", erinnert sie sich, "das Geld kam herein". Sie fühlte sich stark. Und kannte keine Grenzen: Telefonieren? "Handy-Verträge gab es immer." Reisen? "Fast jedes Wochenende war ich mit meiner Clique in Deutschland unterwegs, wir waren neugierig und wollten Spaß." Das neue Girokonto verfügte über einen Dispo, Anna hatte gar nicht darum gebeten. Der war rasch aufgebraucht. Und die Ansprüche stiegen. Im Internet hatte sie einen Kredit aufgespürt, 10.000 Euro bekam sie nach wenigen Klicks gepumpt. Und dass sie sich Geld von ihrer EC-Karte auch in Spielsalons auszahlen lassen kann, wenn Automaten längst streiken, das erfuhr sie in ihrem Freundeskreis. Dann verlor sie ihren Job in einem Café - und ein Loch tat sich auf. Anna findet nun mit der Schuldenberatung langsam wieder hinaus.

In eine Verschuldung geraten nicht wenige in Deutschland. Nach Angaben des Creditreform Schuldenatlas 2012 sind 6,6 Millionen Bürger überschuldet; 2011 waren es 6,4 Millionen. Und es handelt sich weitaus nicht immer um Sorglosigkeit wie bei Anna. Die Fälle nehmen zu, in denen sich Haushalte wegen fehlgeschlagener Investitionen massiv verschulden. Über 8.000 Anfragen und Beschwerden zu Finanzdienstleistungen liefen allein bei der baden-württembergischen Verbraucherzentrale in Stuttgart auf.

Die Rentenreform vor über zehn Jahren zwingt Verbraucher in den Markt der Finanzdienstleistungen, wenn sie ihren Lebensstandard im Alter sichern wollen. Nur: "Der Gesetzgeber hat die Verbraucher in ein Haifischbecken geschubst, ohne vorher die Haie aus dem Becken zu nehmen", sagt Niels Nauhauser von der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg.

Falsche Anlageberatung entwickelt sich zu einem Gesellschaftsproblem. "Wir haben in Deutschland keine echte Anlageberatung", kritisiert Nauhauser. "Der Markt wird dominiert von Verkäufern, die ihre Finanzprodukte gegen Provision und Margen vermitteln." Die Folge: Ein Vermittler verdient nichts, wenn er seinem Kunden keine Anlage verkauft, sondern zum Beispiel zur Schuldentilgung rät. "Verkäufer, die auf Abschluss- und Bestandsprovisionen oder Margen angewiesen sind, können aus dem Marktangebot nicht die besten und günstigsten Produkte empfehlen." Ein Teufelskreis hat sich etabliert. Und der Finanzmarkt wird immer unübersichtlicher.

Die dreistesten Fälle schaffen es an die Öffentlichkeit. Heute löst das Gebaren der Immobilienfirma S&K nur Kopfschütteln aus, ihre Prunkvillen, ein Fuhrpark mit Bentley, Aston Martin und Lamborghini sowie Partys mit C-Promis und Elefanten - das müssen doch Blender sein, denkt man; nur vertrauten ihnen Etliche ihre Ersparnisse an, bevor die Polizei die S&K-Manager verhaftete. Tausende Anleger sollen ihnen auf den Leim gegangen sein, der Wert von Immobilien wurde nach oben hin verfälscht. Schon vor rund drei Jahren erregte S&K Argwohn, damals erwarb die Firma Lebenspolicen. Den Versicherten stellte man das Dreifache des üblichen Rückkaufwerts in Aussicht. Nach damaligen Angaben des Anlegerschutzmagazins "Graumarktinfo" sollte das Geld in kleinen Raten an die Anleger fließen, 24 Jahre würde es dauern, bis sie die gesamte Summe erhalten.

Schneeballsysteme wie das von S&K scheitern zwangsläufig. Solange mehr neue Kunden einzahlen als alte herausnehmen, kann solch ein Betrug den Schein wahren. Doch schließlich will jeder seine Rendite - und der Schwindel fliegt auf. Aufmerksame Verbraucher hätten im vornherein bei S&K zweifeln können, Alarmsignale gab es. Doch welcher Anleger studiert schon Prospekte und rechnet sie penibel nach? "Es gibt nicht die drei Warnzeichen, die unseriöse Anlageberatung mal eben so auffliegen lassen", sagt Verbraucherschützer Nauhauser. "Die Anbieter sind hier sehr gut geschult, kennen die üblichen Einwände bestens und verkaufen ihre Produkte trotzdem."

Dennoch gibt es Punkte, bei denen Anleger hellhörig werden sollten. Wenn zum Beispiel sehr hohe Renditen versprochen werden. Oder der Finanzdienstleister hohe Ausgaben veranschlagt, anstatt so viel Geld wie möglich in das Investment fließen zu lassen. Und Mund-zu-Mund-Propaganda und eine einfache, überzeugende Story klingen oft besser als sie es am Ende sind. Aktuell sind die Zinsen für Bankkredite niedrig. "Da muss man sich schon fragen, warum ein Unternehmen, das seriöse Absichten hat und Sicherheiten bieten kann, sein Kapital nicht viel preiswerter mit einem Bankkredit aufstockt", sagte Daniel Bauer von der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger SdK dem "Handelsblatt".

Traum vom schnellen Geld

Auf der anderen Seite lockt der Traum vom schnellen Geld, in diesen Tagen besonders, da Geld niedrig verzinst auf Konten verharrt. Der Ökonom Charles Kindleberger ist bei seiner Untersuchung von historischen Finanzcrashs zur These gekommen: Boom schafft Betrug. In Deutschland hat sich längst eine Kreditgesellschaft entwickelt. 1970 wurden noch zwanzig Milliarden Euro an Konsumentenkrediten vergeben. Aber allein von 1989 bis 1999 verdoppelte sich zum Beispiel der Umfang dieser Kredite auf 216 Milliarden Euro. Kindlebergers These: je mehr Kredite angeboten werden, desto mehr Korruption. Das viele Geld der Anleger sorgt für viel Hoffnung und Vertrauen - zu viel. Denn dies hat gemäß Kindleberger zur Folge, dass Anleger die Risiken ihrer Investments unterschätzen.

Nauhauser fordert einen Eingriff des Staates. "Die Messlatte für gerichtlich nicht zu beanstandende Anlageberatung ist so niedrig, dass sie quasi in der Erde vergraben ist", sagt er. "Fehlberatung im ökonomischen Sinne ist in Deutschland der absolute Regelfall, weil es weitläufig an Sachkunde mangelt. Zudem mangelt es an einer Aufsicht über die Qualität von Anlageberatung."

Auf die finanzierenden Banken kann ein mit seinem Berater unzufriedener Verbraucher nicht bauen. Ein Urteil des Oberlandesgerichts Hamm sprach jüngst eine Bank von der Mitschuld an einem unwirtschaftlichen Geschäft frei; das Geldinstitut war nicht beratend tätig gewesen, sondern hatte nur einen Kredit für das Investment gestellt.

Privatinsolvenz

Bleibt der Verbraucher weitgehend allein mit seinen Fragen der Altersvorsorge? Einfache Lösungen zeichnen sich nicht ab. So hat eine Studie der Hamburger Verbraucherzentrale erfasst, dass in den vergangenen zehn Jahren Verbraucher durch den Abschluss von Kapitallebens- und privaten Rentenversicherungen einen Verlust bis zu 160 Milliarden Euro erlitten haben.

Kann sich ein Haushalt nicht von seinen Schulden befreien, bleibt die Privatinsolvenz. Seit 1999 bietet die Insolvenzordnung die Chance, in einem Verfahren von allen Schulden befreit zu werden. Die Idee: Der Schuldner offenbart sich, hält sich strikt an einen Haushaltsplan - und alle Gläubiger haben auf den Rest jener Forderungen zu verzichten, der innerhalb des 76 Monate dauernden Verfahrens nicht aufgetrieben werden kann. Für die Schuldner bedeutet dieser Schuldenbereinigungsplan keinen Freibrief. Er erfordert eiserne Disziplin.

Bettina Heine zum Beispiel brachte Anna zunächst dazu, alle Briefe alphabetisch zu ordnen, eine klare Übersicht der monatlichen Einnahmen und Ausgaben zu erstellen. Das Amtsgericht billigte schließlich Annas Schuldenbereinigungsplan. Viel kann die Arbeitslose nicht zurückzahlen. "Seitdem drehe ich aber jeden Cent um." Und sie hat sich im Vorjahr qualifiziert, das Abitur gemacht, will studieren. Viele von ihrer damaligen Clique, sagt sie, würden immer noch im Schuldensumpf verharren. Manche nähmen nun Drogen.

Wer einen Termin bei Bettina Heine haben will, muss sich viele Wochen lang gedulden. Die Beratungsstellen sind überlaufen. Aber Anna kann durchatmen. "Das hier ist wie ein Marathon, aber mit jedem Schritt fühle ich mich freier." Annas Schuldenberg - in etwas mehr als fünf Jahren hat sie ihn bezwungen.