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Mitreden - auch ohne ein Parteibuch

WANDEL Parteien öffnen sich für die Mitsprache von Nichtmitgliedern

08.04.2013
2023-08-30T12:23:57.7200Z
4 Min

Der gesellschaftliche Wandel stellt die traditionelle Form der Mitgliederpartei vor vielfältige Herausforderungen. Zum einen haben es die Parteien mit einer geringeren Neigung in der Bevölkerung zu tun, sich dauerhaft an eine Groß-Organisation zu binden. Zum anderen formuliert der politisch interessierte Teil der Bevölkerung höhere Mitwirkungs- und Teilhabeansprüche im Sinne einer wirksamen und schnell erkennbaren Einflussmöglichkeit.

Die Voraussetzungen für die etablierten Parteien, Hauptansprechpartner für jüngere und partizipationswillige Bürger zu sein, sind deshalb nicht die günstigsten: Parteien gelten nicht wenigen Interessierten als erlebnis- und ereignisarmer Partizipationsraum, der nicht ausreichende individuelle Mitwirkungsmöglichkeiten anbietet, von Routinen überlagert wird und dessen Gestaltungsraum für das einzelne ehrenamtliche Mitglied an den Grenzen des Ortsvereins endet. Das Binnenleben der Organisation ist mit dem Blick von außen geprägt von Hierarchien und traditionellen Strukturen. Zudem macht den Parteien das Image zu schaffen, Vereine für Berufspolitiker zu sein, welche deren Macht und Ressourcen absichern und den Amateuren an der Basis wenig Handlungsspielraum geben möchten. Der Freizeitwert der ehrenamtlichen Parteiarbeit wird entsprechend als gering eingeschätzt, eine Parteimitgliedschaft genießt in weiten Teilen der Bevölkerung keine herausgehobene soziale Reputation. Da nimmt es nicht wunder, dass insbesondere die einst millionenstarken Großparteien wie SPD und Unionsparteien seit den 1980er Jahren stetig an Mitgliedern verlieren.

Vitalität

Längst hat sich in den etablierten Parteien die Erkenntnis durchgesetzt, dass sie diesen Prozess nicht einfach achselzuckend hinzunehmen haben, sondern ihm aktiv entgegenwirken müssen. Schließlich steht ihre Rolle als Legitimationsbeschaffer und als machtvoller Motor im politischen Willensbildungsprozess auf dem Spiel. Versuche, die Vitalität des Binnenlebens von Parteien zu stärken, sind zwar schon seit den 1990er Jahren zu beobachten, jedoch waren deren Erfolge bislang eher bescheiden. Spätestens mit den Wahlerfolgen der Piratenpartei bei Landtagswahlen in den Jahren 2011 und 2012 ist das Thema bei den anderen Parteien wieder virulenter, gelang es doch den Piraten das Thema der Teilhabe und Mitwirkung am innerparteilichen Willensbildungsprozess weit oben auf der Agenda zu platzieren. Die technischen Möglichkeiten des Web 2.0 ermöglichen nach Ansicht der Piraten mehr Basisdemokratie, sowohl innerhalb als auch außerhalb von politischen Parteien. Schließlich ist die Beteiligungsmöglichkeit im Netz ortsunabhängiger, zeitlich flexibel und individuell gestaltbar.

Doch die anderen Parteien reagieren nicht nur mit ihrem Onlineangebot auf Partizipationswünsche, sondern probieren darüber hinaus unterschiedlichste Formen und Instrumente der innerparteilichen Mitwirkung aus. Grundlegend ist die Frage zu beantworten: Wer darf über was in welcher Art und Weise mitentscheiden? Beim "wer" ist zunächst bei allen Parteien eine Ausweitung des Adressatenkreises zu beobachten: Nicht nur Mitglieder, sondern Sympathisanten oder interessierte Bürger allgemein sollen erhöhte Mitwirkungsmöglichkeiten bekommen. Die Mitgliedschaft soll zudem entgrenzt oder flexibilisiert werden, etwa durch zeitlich befristete Gast- oder Schnuppermitgliedschaften. Die Mitwirkung in einzelnen Arbeitsgruppen der Parteien ohne formellen Parteibeitritt, aber mit Rede- und Antragsrecht wurde spürbar erleichtert, wie es etwa die SPD in ihrer jüngsten Parteireform 2011 beschlossen hat. Beim "was" ist grundlegend zwischen Sachfragen und der Personalauswahl zu unterscheiden; bei der Art und Weise sind die Hürden des Zugangs, unterschiedliche politische Verbindlichkeit sowie das Instrument oder die Form der Mitwirkung zu differenzieren. Grundlegend gilt als Faustregel, dass Personalfragen nahezu ausschließlich von den Mitgliedern zu entscheiden sind, während bei Sachfragen auch Nichtmitglieder vermehrt eingebunden werden. Bei der Auswahl von Personen wird von den Parteien seit einiger Zeit das Mitgliederprinzip gegenüber dem bislang geltenden Delegiertenprinzip verstärkt eingeführt, etwa bei der Wahl der Bundestags- und Landtagskandidaten, aber auch - wie jüngst bei den Grünen auf Bundesebene - bei der Bestimmung von Spitzenkandidaten. Bei der Wahl von Parteivorsitzenden auf Bundesebene hat die SPD im Jahr 1992 die Mitglieder abstimmen lassen, danach wollte sie ihnen diese Möglichkeit nicht mehr geben. Von dem im Statut verankerten Recht, den Kanzlerkandidaten durch eine Urwahl zu bestimmen, hat die Partei bislang keinen Gebrauch gemacht.

Verbindlichkeit

Die verstärkten Anstrengungen der Parteien, Sympathisanten bei Sachfragen mitwirken zu lassen, werden mit Blick auf die Wahlprogramme für die Bundestagswahl in diesem Jahr sichtbar. Alle im Bundestag vertretenen Parteien bieten on- und offline Möglichkeiten des Mitmachens und Mitdiskutierens an: Bürgerdialoge und Mitmach-Tools, Diskussionsforen, Bürgerkonvente und Regionalkonferenzen und sogar Mitgliederentscheide über wichtige Projekte bei einer möglichen Regierungsbeteiligung (Bündnis 90/Grüne) sind eingerichtet beziehungsweise vorgesehen. Mit ihrem Entscheid erreichen die Bündnisgrünen eine höhere Verbindlichkeitsstufe als etwa SPD mit ihrem "Bürgerdialog", die FDP mit ihrem "Bürgerprogramm" auf dem Mitmachportal "Meine Freiheit" oder die CDU mit ihrem Angebot "Was mir am Herzen liegt", da sie ein höheres Maß an Überprüfbarkeit des Einflusses und damit der Wirksamkeit des Engagements gewährleisten.

Das Ausmaß der politischen Verbindlichkeit ist ein zentraler Aspekt, um die Mitwirkungsrechte qualitativ bewerten zu können. Je unverbindlicher und intransparenter, umso weniger wirksam wird dem Einzelnen sein Mitwirken erscheinen. Die SPD hat daher die Bürgervorschläge im Programm immerhin eigens gekennzeichnet, wenngleich die personelle Zusammensetzung der Bürgerkonvente offen blieb. Die Frage des Zugangs zur Mitwirkung ist on- wie offline zu stellen: die Hürden sind unterschiedlich hoch und reichen von einfacher Registrierung bis hin zur formellen Mitgliedschaftsbestätigung. Die eingesetzten Instrumente der Mitwirkung sind ebenso vielfältig: Diskussionen, Konferenzen, Befragungen, Petitionen - alles sowohl online als auch außerhalb des Netzes. Um dauerhaft wieder mehr Anhänger zu gewinnen, reichen diese temporären Maßnahmen im Wahlkampf nicht aus. Hier gilt es für alle Parteien gleichermaßen, diese Angebote zu verstetigen und dem potenziellen Anhänger den Eindruck der unmittelbaren und dauerhaften Wirksamkeit seines Engagements aufzuzeigen.