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Im Wandel der Jahrzehnte

ANALYSE Seit der Anfangszeit der Bundesrepublik hat sich nicht nur die Parteienlandschaft geändert. Auch die Parteien selbst sind heute etwas anderes als…

08.04.2013
2023-08-30T12:23:57.7200Z
5 Min

Die Formel ist ebenso elegant wie vage: "Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit." Mehr legt das Grundgesetz nicht fest zur Rolle der Parteien in der politischen Praxis - erstaunlich wenig angesichts ihrer zentralen Bedeutung im parlamentarischen Regierungssystem. Eine Definition von "Partei" schien den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates offenbar unnötig; gestritten wurde nur über andere Vorschriften des Artikels 21, vor allem über die Parteifinanzierung. Vielleicht war die Allgemeinheit des Satzes, den die Mütter und Väter der Verfassung gewählt haben, aber auch vorausschauend. Denn die Parteien im beginnenden 21. Jahrhundert sind durchaus etwas anderes als jene der Jahre 1948/49 - auch wenn drei der fünf über Jahrzehnte im demokratischen Parlament der Bundesrepublik vertretenen Gruppierungen dem Bundestag immer angehört haben. An Union, SPD und FDP wie an den beiden hinzugekommenen Parteien Grüne und PDS beziehungsweise Die Linke kann man die Entwicklung der Demokratie in Deutschland gut nachvollziehen.

Mutige Innovation

Zu den zentralen Aspekten gehört die langsame Erosion hergebrachter, aus der Nähe betrachtet scheinbar festgefügter Milieus. Dass die CDU/CSU von Anfang an überkonfessionell konzipiert war, galt noch lange als mutige Innovation - weshalb bei der Postenverteilung bis hinein in die Ära von Helmut Kohl nicht nur auf regionalen, sondern auch auf Konfessionsproporz geachtet werden musste. Die Erinnerung daran löst heute jedenfalls in Deutschlands Großstädten nur Kopfschütteln aus. Angesichts der sinkenden Bedeutung beider großen Kirchen in Deutschland dürfte diese Entwicklung weitergehen. Ein neues verbindendes Element des konservativen Spektrums der Gesellschaft anstelle der christlichen Werte ist bislang aber nicht absehbar: Die CDU/CSU des 21. Jahrhunderts wird zusammengehalten von der Ablehnung als übertrieben empfundener Reformversprechen des linksliberalen und linken Spektrums - aber nicht von einer eigenen, positiv formulierten Vision.

Gleich mehrfach neu erfunden hat sich in den vergangenen 65 Jahren die SPD. Als einzige demokratische Partei hatte sie mit aller Kraft gegen die Nationalsozialisten gearbeitet, war mit unzähligen Opfern, aber moralisch unbeschädigt aus der Katastrophe des Dritten Reiches hervorgegangen - und saß dennoch ab 1949 auf Bundesebene der neugegründeten Bundesrepublik in der Opposition. Erst als der ehemalige Kaderkommunist Herbert Wehner die soziale Marktwirtschaft und die Westbindung dem Kernbestand sozialdemokratischer Identität hinzufügte, rückte die Sozialdemokratische Partei der Regierungsfähigkeit näher und stellte ab 1969 den Bundeskanzler. Allerdings löste sich ihr angestammtes Milieu, die Arbeiterschaft, in den 1970er und 1980er Jahren weitgehend auf. Die Sozialdemokratie reagierte darauf, indem sie den Bürgern den Eindruck vermittelte, zeitweise ein "Kanzlerwahlverein" für Willy Brandt und Helmut Schmidt zu sein, ähnlich wie es die CDU unter den Vorsitzenden Konrad Adenauer und Helmut Kohl war und unter Angela Merkel ist. Ein deutlicher Linksschwenk im Zuge der Verschärfung des Kalten Krieges Anfang der 1980er Jahre kostete die SPD die Macht in Bonn. Zurück an die Schaltstellen schaffte sie es 1998 - durch eine offensiv vertretene Öffnung zur gesellschaftlichen Mitte hin. Ob die Rückbesinnung zu eher traditionell linken Werten der Parteiorganisation zusammen mit einem betont pragmatischen Kanzlerkandidaten einen ähnlichen Erfolg verspricht, kann wohl erst die kommende Bundestagswahl erweisen.

Liberale Wendungen

Mit die größten Veränderungen machte in den bislang 64 Jahren der Bundesrepublik Deutschland die FDP mit. Auf den liberaldemokratischen Gründungsvorsitzenden Theodor Heuss folgte ein Schwenk hin zu nationalliberalen Überzeugungen. In den späten 1960er Jahren stand die FDP als einzige Opposition gegen die Große Koalition, scheiterte bei der Bundestagswahl 1969 dennoch fast an der Fünf-Prozent-Hürde und erfand sich in den "Freiburger Thesen" als linksliberale Kraft neu; einschließlich des Umweltschutzes, der es 1971 erstmals ins Programm einer relevanten deutschen Partei schaffte. Nur wenige Jahre später verschoben sich die Mehrheiten in der FDP erneut hin zum Wirtschaftsliberalismus, so dass die Mehrheit der Fraktion im Jahr 1982 einen Regierungswechsel durch das einzige erfolgreiche konstruktive Misstrauensvotum herbeiführte. Die häufigen Verschiebungen zwischen den Parteiflügeln hatten Folgen: Keine bundesdeutsche Partei erlebte so viele Fraktionsaustritte und Abspaltungen wie die Liberalen. Andererseits war auch keine Partei in der Geschichte der Bundesrepublik so lange an der Regierung beteiligt: nämlich rund 50 der bisher knapp 64 Jahre seit Inkrafttreten des Grundgesetzes. CDU und CSU kommen im Bund "nur" auf etwa 44 Regierungsjahre, die SPD auf 27 Jahre, die Grünen auf sieben Jahre.

Neue Kraft

Nachdem in den 1970er Jahren die Kleinparteien auf Bundesebene durch die rigide Fünf-Prozent-Hürde erledigt schienen, brachte dennoch eine neue Kraft das vermeintlich etablierte Drei-Parteien-System in Unordnung. Die Grünen, entstanden aus vielen umwelt- und friedensbewegten Bürgerinitiativen, brachten einen völlig neuen, ungewohnten Ton in die Politik. Doch auch sie machten einen deutlichen Transformationsprozess durch bis hin zur ersten Regierungsbeteiligung auf nationaler Ebene 1998: Aus der einst alternativen Partei mit teilweise linksradikalen Wurzeln, die sich lange als Anti-Parteien-Partei gerierte, wurde eine Gruppierung mit bürgerlicher Attitüde und vielen Gutverdienern. Sie hat nicht nur einen Vizekanzler und zahlreiche Minister gestellt, sondern nunmehr sogar einen Ministerpräsidenten. Damit konkurrieren die Grünen teils mit einem Spektrum im linksbürgerlichen Bereich, das einst die FDP mit ihren "Freiburger Thesen" angestrebt und teils auch erreicht hatte.

Allerdings mit Folgen. Mehr als fünf Jahrzehnte lang hatten zunächst die SPD und später eben die Grünen den linken Rand des politischen Spektrums in der Bundesrepublik mit abgedeckt. Schon bei der zweiten Bundestagswahl war die KPD an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert und hatte es auch nach ihrer Neugründung 1968 als DKP trotz massiver Finanzhilfe aus der DDR nie auch nur annähernd in die Nähe der nötigen Stimmenzahl geschafft, ebenso wenig wie andere linksextreme Splittergruppen. Die rechtsextreme NPD scheiterte 1969 dagegen nur knapp an der Fünf-Prozent-Hürde bei der Bundestagswahl. Nach der deutschen Einheit 1990 zog dann mit der zur PDS gewandelten SED wieder eine sozialistische Partei in ein demokratisches deutsches Parlament ein, zunächst allerdings aufgrund wahlrechtlicher Sonderfälle wie einer regionalen Ausnahmeregelung der Sperrklausel oder direkt gewonnener Wahlkreise. Erst 2005 etablierte sich mit der nun auch nach Westdeutschland ausgeweiteten Linkspartei eine Kraft links von SPD und Grünen. Das war möglich, weil die Grünen angestammte Wählergruppen wie radikale Pazifisten ihrer Regierungsfähigkeit wegen aufgegeben hatten. Seitdem sind fünf Fraktionen im Bundestag - für Deutschland eine neue Erfahrung, wenngleich in europäischer Perspektive nur eine Normalisierung.

Weniger Bindungskraft

Im Laufe von mehr als sechs Jahrzehnten bundesdeutscher Geschichte sind traditionelle Milieus verschwunden oder haben sich doch deutlich verändert, was sich auch im Parteiensystem niederschlägt. Vor allem die Volksparteien haben deutlich an Bindungskraft verloren. Sechs Parteien im Bundestag wie seit 2005 sind zwar immer noch weniger als 1953, als trotz Fünf-Prozent-Hürde dank Absprachen auf Wahlkreisebene sieben Parteien ins Parlament einzogen. 1949 hatten wegen der damals regionalen Gültigkeit der Sperrklausel sogar elf Parteien den Sprung geschafft. Jedoch konnten Union und SPD bei der Bundestagswahl 2009 zusammen nur knapp 57 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen; das war sogar weniger als bei der ersten Bundestagswahl, als die Union 31 Prozent erreicht hatte und die SPD 29,2 Prozent.

Aktuelle Umfragen aber deuten darauf hin, dass sich bei der Abstimmung am 22. September 2013 wieder 65 bis 70 Prozent der Wähler für eine der großen Parteien entscheiden könnten. Einen gemeinsamen Anteil jenseits von 80 Prozent aber dürften Union und SPD in näherer Zukunft wohl nicht mehr erreichen. Das erschwert gewiss Regierungsbildungen, bildet aber die Ausdifferenzierung der Gesellschaft ab. Gegenwärtig immerhin weist alles darauf hin, dass auch im kommenden Parlament fünf Fraktionen sitzen werden - der zeitweilige Höhenflug der Piraten scheint beendet.