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Das Orakel von Straßburg

EUROPA Auch die Rechtsprechung des Menschenrechtsgerichtshofs errichtet vor einem Verbot der NPD beträchtliche Hürden

29.04.2013
2023-08-30T12:23:58.7200Z
3 Min

Manche richten schon mal den Blick nach Straßburg und lassen warnende Stimmen erklingen. Der ehemalige Verfassungsrichter Hans-Joachim Jentsch etwa hält es für wahrscheinlich, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein Verbot der NPD kippen würde, sofern es vom Bundesverfassungsgericht beschlossen werden sollte. Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) erwartet eine "sehr kritische zweite Prüfung" durch die 47 Richter des Europarats. Auch Hessens Justizminister Jörg-Uwe Hahn (FDP) zweifelt, ob ein NPD-Verbot vor dem Straßburger Gerichtshof Bestand hätte. Doch solche mahnenden Wortmeldungen sind eher selten, der heftige Streit um das Für und Wider eines Verbots der als rechtsextrem eingestuften Partei ist weithin innenpolitisch geprägt. Der Bundesrat will vor dem Verfassungsgericht ein NPD-Verbot durchsetzen, Bundestag und Bundesregierung haben sich gegen einen Gang nach Karlsruhe entschieden.

Höchste Instanz

Im Fall ihres von den Verfassungsrichtern dekretierten Verbots will die NPD nach Straßburg ziehen. Und angesichts der bisherigen Rechtsprechung des EGMR ist es keineswegs sicher, dass die Partei vor der höchsten juristischen Instanz auf dem Kontinent den Kürzeren ziehen würde: Die Menschenrechtscharta, die der Gerichtshof in seinen Entscheidungen auslegt, und dessen bislang gefällten Urteile bauen hohe Hürden vor einem NPD-Verbot auf.

Anders als das Grundgesetz äußert sich die Menschenrechtskonvention überhaupt nicht zu Parteien. Zurückgegriffen wird deshalb auf Artikel 11 der Charta, der die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit garantiert: Dieses Recht darf nur eingeschränkt werden, wenn es "notwendig" ist. Nach den bisherigen Straßburger Urteilen bedeutet diese Passage, dass die "Verhältnismäßigkeit" zu wahren ist, dass eine Partei, über deren Schicksal befunden werden soll, eine ernsthafte Bedrohung für den Staat darstellt und ein Verbot ein "dringendes gesellschaftliches Bedürfnis" sein muss. Dean Spielmann, der luxemburgische EGMR-Präsident, nennt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit "entscheidend": Die Bekämpfung einer von einer extremistischen Partei ausgehenden Gefahr müsse in einem angemessenen Verhältnis zum "gravierenden Eingriff in deren politische Freiheitsrechte stehen".

Gebilligt hat Straßburg ein repressives Vorgehen 2003 im Fall einer türkischen islamistischen Partei, die von Ankara verboten worden war: Diese Organisation hatte aus Sicht des Gerichtshofs eine "Chance zur Machtergreifung" und hätte dann demokratische Prinzipien abschaffen können. Annulliert hat die Instanz des Europarats indes das Verbot einer türkischen kommunistischen Partei - sie war weit entfernt von einer Machtübernahme, zudem hatte Ankara deren Demokratiefeindlichkeit unzureichend begründet.

Ist nun ein Verbot der NPD "notwendig"? Ende der 1960er Jahre zählte die Partei 28.000 Mitglieder und war mit mehr als 60 Abgeordneten in sieben von zehn westdeutschen Landtagen vertreten - ohne dass die demokratische Ordnung bedroht war. Heute hat die finanziell klamme NPD 5.400 Mitglieder, in zwei von 16 Landesparlamenten sitzen zusammen 13 ihrer Vertreter. Kein Wunder, dass Warnungen laut werden, der Nachweis einer "ernsthaften Gefahr für den Staat" könnte vor den Straßburger Richtern schwer fallen.

Die Befürworter eines Verbots forcieren ihren Vorstoß seit dem Auffliegen des sogenannten "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU), dem die Ermordung von neun Kleinunternehmern mit ausländischen Wurzeln und einer deutschen Polizistin angelastet wird. Mit Ralf Wohlleben ist ein ehemaliger NPD-Funktionär angeklagt, den NSU unterstützt zu haben. Nach einem Urteil des Menschenrechtsgerichtshofs von 2009 können Parteien verboten werden, wenn sie Verbindungen zu Terroristen haben. Wegen der Kontakte zur ETA billigten die Richter damals das Verbot der Basken-Partei Batasuna, die sich als "Instrument der terroristischen Strategie der ETA" verstehe - weshalb "objektiv eine Gefahr für die Demokratie" existiere. Im Fall der NPD sieht dies freilich anders aus: Selbst nach Einschätzung der Bundesanwaltschaft ist eine Verflechtung mit dem NSU nicht auszumachen.

Heikle Frage

Bei Parteiverboten spielt für den EGMR auch die konkrete Lage im jeweiligen Land eine Rolle. Ist daraus abzuleiten, dass angesichts der NS-Diktatur die Schwelle für ein Verbot rechtsextremer Parteien in Deutschland niedriger als in anderen Staaten liegen kann? Eine solche Betrachtung wirft die heikle Frage auf, ob zur Wahrung der in der Menschenrechtscharta verankerten Standards in den 47 Europaratsnationen unterschiedliche Maßstäbe gelten dürfen.