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Grundregel außer Kraft

AUFKLÄRUNG Im NSU-Untersuchungsausschuss haben die Fraktionen diesmal Gemeinsamkeit demonstriert

15.07.2013
2023-08-30T12:24:02.7200Z
3 Min

Die Ziffer 49 ist keine einprägsame Zahl. Diese unscheinbare Nummer trägt der Untersuchungsausschuss, der Fehlgriffe und Pannen bei den Ermittlungen zu der dem "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) angelasteten Mordserie an neun türkisch- oder griechischstämmigen Kleinunternehmern und einer Polizistin durchleuchten soll. Und doch dürfte gerade das 49. parlamentarische Aufklärungsgremium seit 1949 Bundestagsgeschichte schreiben. Der Vorsitzende Sebastian Edathy (SPD) betont, dass in diesem Fall ein Untersuchungsausschuss erstmals einstimmig eingerichtet wurde. Ein anderes Novum: Das Gremium soll nicht nur Missstände erhellen, sondern zudem Konsequenzen für Verbesserungen ziehen.

Vor allem aber haben die elf Abgeordneten eine Grundregel außer Kraft gesetzt, wonach solche Kommissionen stets Kampfinstrumente der Opposition gegen die Regierung sind und sich beide Lager mit taktischen Winkelzügen auszumanövrieren versuchen. Zehn Morde, zwei Sprengstoffattentate und ein gutes Dutzend Raubüberfälle, die Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe zugerechnet werden, ließen die Fraktionen zusammenrücken und gemeinsam nach den Ursachen der "schweren Niederlage für die Sicherheitsbehörden" forschen, die Heinz Fromm einräumte, der im Zuge der NSU-Affäre als Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz zurücktrat. Unions-Obmann Clemens Binninger (CDU) findet es "beeindruckend", dass man es geschafft hat, so lange "zusammenzubleiben". Als "Kleinod" lobt SPD-Sprecherin Eva Högl das Gremium wegen der parteiübergreifenden Kooperation. So gelang es zu verdeutlichen, "dass das Parlament die Exekutive kontrolliert", wie Binninger sagt.

Der gemeinsame Wille, Fehler der Sicherheitsbehörden "schonungslos aufzuarbeiten" (Edathy), trug auch inhaltlich Früchte. Was der Ausschuss beim Blick auf das vom Vorsitzenden konstatierte "beispiellose Versagen" der Sicherheitsinstanzen aufgedeckt hat, verschlug den Abgeordneten zuweilen die Sprache.

Wie konnte es passieren, dass das NSU-Trio über ein Jahrzehnt verschwunden blieb? Zum Beispiel deshalb, weil die bei einer Garagendurchsuchung entdeckten Adressen aus dem rechtsextremen Spektrum nicht genutzt wurden - wobei diese Kontaktdaten besonders in Chemnitz vielleicht frühzeitig auf die Spur der 1998 in Jena untergetauchten Gruppe hätten führen können. Die Abgeordneten machte es fassungslos, dass diese "Garagenliste" bei der Thüringer Polizei offenbar verschludert wurde. Immerhin gab es im Ausschuss auch erheiternde Momente. So betrieb die Polizei in Nürnberg getarnt eine Dönerbude, um so an die im kriminellen Milieu vermuteten Täter heranzukommen. In Hamburg kontaktierte die Polizei einen persischen "Metaphysiker" zwecks Befragung eines Opfers im Jenseits.

Die Erwartungen an den noch ausstehenden Abschlussbericht des Gremiums sind groß. Noch kein Resümee eines Untersuchungsausschusses dürfte so häufig und so neugierig gelesen worden sein, wie es dieses Mal wohl der Fall sein wird. Ihr Gesamturteil haben sich die Fraktionen längst gebildet. FDP-Obmann Hartfrid Wolff brandmarkt ein "Versagen des föderalen Sicherheitssystems". Linke-Sprecherin Petra Pau blickt in "viele Abgründe". Wolfgang Wieland (Grüne) spricht vom "Totalversagen" bei Polizei und Geheimdiensten.

Kleinkrieg vor dem Ausschuss

Wird der Bericht aber die spannende Frage beantworten, woran es denn nun konkret gelegen hat, dass der NSU derart lange unterzutauchen vermochte? Wie werden die Parlamentarier neben der "Garagenliste" die Fülle anderer Fehlleistungen bewerten? Hätte etwa eine gründliche Suche in polizeilichen Datenbeständen beim Kölner Nagelbombenanschlag von 2004 zur NSU-Fährte führen können? In Thüringen scheinen Polizei und Verfassungsschutz eine Art Kleinkrieg geführt zu haben, der sich auf der Bühne des Ausschusses fortgesetzt hat. In Brandenburg unterrichtete ein Spitzel den Geheimdienst über Bemühungen des untergetauchten Trios, mit Hilfe von Sympathisanten an Waffen zu kommen - doch diese Information aus Potsdam erreichte die Polizei in Thüringen und Sachsen nicht. In Bayern verließ sich eine Soko der Polizei vergeblich darauf, dass der Landes-Verfassungsschutz bundesweit nach eventuell als Täter in Frage kommenden Rechtsextremisten forscht. Die Geheimdienste hatten mehrere V-Leute im Umfeld des abgetauchten Trios platziert, doch es kamen keine Hinweise auf Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe: Haben die Spitzel schlecht gearbeitet oder behielten sie wesentliche Erkenntnisse für sich? Die Auseinandersetzung mit all diesen Details ist zentral für die Kernfrage, welche Konsequenzen der Ausschuss aus dem Versagen der Behörden ziehen wird.

Anfang September steht eine Plenardebatte über den Abschlussbericht an. Werden die Fraktionen auch dann den Versuchungen des Wahlkampfs widerstehen und bis zuletzt gemeinsam agieren?