Piwik Webtracking Image

Sehnsucht nach Stabilität

VERFASSUNG Nach der Katastrophe der Nazi-Herrschaft zogen die Mütter und Väter des Grundgesetzes Konsequenzen aus den "Fehlern von Weimar". Der Bundestag…

05.08.2013
2023-08-30T12:24:03.7200Z
5 Min

Ich sehe keine Chance für den Parlamentarismus, wie er hier wieder niedergelegt wird, ohne Witz und neue Einfälle." Mitten im 20. Jahrhundert schaffe man ein Regierungssystem nach dem Vorbild des 19., ohne dessen Optimismus angesichts des Versagens der Parlamente noch haben zu können, warnte der Kritiker weiter. Der Verfall schwächlicher Koalitionen werde wiederkehren und der Kanzler sein Amt nicht führen können.

Es war der Liberale Thomas Dehler, später erster Justizminister der neuen Republik, der diese Position 1949 im Parlamentarischen Rat bezog. Es sollte jedoch anders kommen als von ihm befürchtet. Schon wenig später war in der Publizistik der Bundesrepublik die Rede von der Kanzlerdemokratie - ein Begriff, der belegt, dass der Marsch in die befürchtete Instabilität nicht angetreten worden war. Dem Trauma von Weimar bot sich keine Wiederholungschance.

Verantwortung aufgenötigt

Das Grundgesetz zog aus dem Versagen des Weimarer Reichstags nicht die Konsequenz, das Parlament zu schwächen. Im Gegenteil: Es nötigte ihm die politische Verantwortung auf. Versagt hatten in Weimar ja auch andere Staatsorgane, speziell der Präsident, der dem Reichstag bewusst als Aufpasser, Nothelfer, ja als Gegenmacht gegenüber gestellt worden war: der ebenfalls direkt vom Volk gewählte "Ersatz-Kaiser", der eigene demokratische Legitimation und eine Fülle verfassungsrechtlicher Kompetenzen besaß. Er sollte jene Stabilität garantieren, die Parlament und Parteien nicht zugetraut worden war. So kam es zum Dualismus zweier unvereinbarer Strukturprinzipien und am Ende zur Übermacht des Präsidialregimes, dem sich ein verantwortungsscheues Parlament auslieferte, bis es sich am Ende aus dem Machtspiel genommen sah.

Symbolische Autorität

Im Bemühen, aus den "Fehlern von Weimar" zu lernen, fanden derlei Gegenstrukturen keinen Platz im Grundgesetz. Der Bundespräsident erhielt keine plebiszitäre, sondern eine parlamentarisch-föderale Legitimation. Er besitzt eher symbolische Autorität, die er sich zudem durch Ausstrahlung und Amtsführung erwerben muss. Eigenständige Kompetenzen wie in Weimar, das Parlament aufzulösen, den Kanzler zu bestimmen oder zu entlassen, hat er nicht, andere politische Ermessensspielräume kaum. Und auch sie können, wie das Recht, nach einer gescheiterten Vertrauensfrage auf Bitte des Kanzlers den Bundestag aufzulösen, der Nachprüfung durch das Verfassungsgericht unterliegen. 1983 und 2005 war das der Fall. Karlsruhe hat dabei im Wesentlichen auf die Lagebeurteilung des Kanzlers abgestellt, die der Präsident nicht durch seine eigene aushebeln dürfe.

Die Verantwortung für die politische Macht und den politischen Prozess liegt seit 1949 unentrinnbar beim Bundestag: Er muss den Kanzler wählen. Das Misstrauen kann er ihm nur aussprechen, indem er zugleich einen Nachfolger wählt: ein konstruktives - und nicht wie ehedem nur negatives - Misstrauensvotum. Anders auch als in Weimar kann der Bundestag nicht einzelne Minister aus dem Kabinett "schießen". Dies sind rechtliche Voraussetzungen für eine stabile Regierungsführung, zugleich auch eine Basis für die Richtlinienkompetenz des Kanzlers, die schon die Weimarer Verfassung vorsah, die aber in der Praxis politisch leer lief.

Der Verfassungsauftrag, eine Regierung ins Amt zu bringen, begründet auch das entscheidende politische Stabilitätskriterium: das enge Vertrauens- und Kooperationsverhältnis zwischen Parlamentsmehrheit und Regierung, das Handlungsfähigkeit und sinnvolle Politik ermöglicht. Es erschöpft sich nicht in der Kanzlerwahl, sondern ist auf Dauer angelegt, sinnfällig ausgedrückt im Begriff "regierende Mehrheit". Kernbereiche gouvernementaler und parlamentarischer Autonomie existieren durchaus fort. Aber aus ihnen heraus wird auf unterschiedliche, doch kooperative Weise wechselseitig Verantwortung für die gemeinsamen politischen Ziele wahrgenommen. Parlamentarischer Mitregierung entspricht auf der anderen Seite die Kritik- und Kontrollkompetenz der Opposition.

Kein Systemproblem

Es ist erstaunlich, wie problemlos sich der Bundestag seit 1949 dieses System zu eigen gemacht hat, das seinen Vorgängern fremd geblieben war. Regierungsbildung, Regierungsführung, die Überwindung von Regierungskrisen - zu keinem Zeitpunkt entstand ein ernsthaftes Systemproblem. Zugleich wurden Herausforderungen vom Wiederaufbau über den Ost-West-Konflikt und die Wiedervereinigung bis hin zur Globalisierung ohne Instrumente bewältigt, wie sie die Weimarer Republik kannte, das Grundgesetz aber bewusst vorenthält: Ermächtigungsgesetze, Notverordnungen, Ersatzgesetzgeber. Parlamentarische und gouvernementale Verantwortung müssen wahrgenommen werden, auch wenn es unbequem ist. Die politischen Eliten mögen sich eine Weile winden, aber verantwortbar handeln müssen sie letztlich doch, da es nun keine zweite demokratisch legitimierte Instanz mehr gibt.

Verfassungsrang für Parteien

Die Weimarer Verfassung hatte den Parteien nichts zugetraut und sie auch nicht anerkannt. Beim Herrenchiemseer Verfassungskonvent setzte sich dagegen Carlo Schmids Position durch, dass die das öffentliche Leben bewegenden und gestaltenden Kräfte "nun einmal, ob es einem gefällt oder nicht, die politischen Parteien" sind. 1949 erhielten sie Verfassungsrang. Zugleich wurden sie auf demokratische Grundsätze verpflichtet - und, um der früheren Zersplitterung entgegenzutreten, im Wahlrecht bei der Mandatsverteilung einer Sperrklausel unterworfen. Karlsruhe hat diese unter Bezugnahme auf die Regierungsfähigkeit als bewusste verfassungspolitische Grenzentscheidung akzeptiert. Faktisch unterlag das Parteiensystem jahrzehntelang Konzentrationsprozessen, erwies sich aber dann auch als offen für die Integration neuer Kräfte. Aber für das Stabilitätsprogramm des Grundgesetzes waren in der Realität nicht nur die Rechtsnormen ausschlaggebend. Von größter Bedeutung sind Mentalitäts- und Verhaltensänderungen der Parteien, denen es an Willen zu Macht und Verantwortung, anders als früher, in der Bundesrepublik nie fehlte.

Ob die plebiszitäre Abstinenz des Grundgesetzes diese neue Rationalität befördert hat? Mit den "Weimarer Erfahrungen" wurde argumentiert, die im Wesentlichen "nur" die Erregungen öffentlicher Meinungskämpfe in ohnehin aufgewühlten Zeiten meinen konnten. Aber genau das war bedeutsam angesichts der zeitgenössischen Ungewissheiten über die Einwurzelung der parlamentarischen Demokratie und "die dauernde Erschütterung des mühsamen Ansehens, worum sich die Gesetzgebungskörper, die vom Volk gewählt sind, noch werbend bemühen müssen, um es zu gewinnen" (Theodor Heuss).

Damals ging es um die Gewährleistung eines gemäßigten Meinungsklimas in einer fundamentalen Umbruchsepoche, nicht um eine abschließende Entscheidung. Denn das Grundgesetz war als Provisorium angelegt - für wenige Jahre bis zur bald erhofften Wiedervereinigung. Heute wird die Diskussion um Plebiszite auf Bundesebene offener geführt, bisweilen aber auch mit kritischem Unterton gegen den Parlamentarismus.

Der Autor ist emeritierter Politologie-

Professor an der Universität Passau.