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Die Macht des Volkes

DEMOKRATIE Der Ruf nach mehr Bürgerbeteiligung im repräsentativen System wird lauter

05.08.2013
2023-08-30T12:24:03.7200Z
7 Min

Das Wort lässt oberflächlich betrachtet wenig Spielraum für Interpretationen: Demokratie - Herrschaft des Volkes. Und doch ist die Diskussion, wie und wieviel Macht das Volk direkt in einer Demokratie ausüben soll, so alt wie sie selbst. Für die geistigen Urväter im antiken Athen war die Sache klar: Alle Staatsgewalt geht nicht nur vom Volk aus, wie im deutschen Grundgesetz formuliert ist, sondern sie wird vom Volk ausgeübt - und zwar ganz direkt. Im Zentrum der attischen Demokratie zwischen dem sechsten und vierten Jahrhundert vor Christus stand die Volksversammlung, in der die Vollbürger Athens über die wichtigsten politischen Anliegen entschieden. Doch das Recht auf politische Teilhabe war zugleich eine Pflicht: Als schlechter Bürger galt jener, der sich nicht um die Belange des Staates kümmert, wie es der Staatsmann und Feldherr Perikles in seiner Rede auf die Gefallenen des Krieges gegen Sparta im Jahr 431 vor Christus postulierte. Rund 2.500 Jahre später wünschte man sich mitunter ein so entwickeltes Verständnis von einem partizipierenden Bürger.

Stuttgart 21

Für die frisch gekürte grün-rote Landesregierung Baden-Württembergs bot das Prinzip der direkten Demokratie 2011 einen willkommenen Ausweg aus einer verfahrenen Situation. Über das höchst umstrittene Projekt "Stuttgart 21" sollte nach Monaten der Auseinandersetzung das Volk entscheiden. Denn zwischen den Koalitionspartnern herrschte keine Einigkeit. Während die Grünen sich im Wahlkampf gegen den unterirdischen Bahnhof positioniert hatten, wollte die SPD an seinem Bau festhalten. Zugleich war beiden Parteien klar, welch politischer Sprengstoff das Projekt beinhaltet. Schließlich hatte der Streit um "Stuttgart 21" neben der Nuklearkatastrophe von Fukushima nicht unerheblich zur Abwahl der schwarz-gelben Landesregierung im März 2011 beigetragen.

Volksabstimmung

Ein halbes Jahr später waren dann 7,6 Millionen wahlberechtigte Baden-Württemberger aufgerufen zu entscheiden, ob die neue Landesregierung per Gesetz verpflichtet werden soll, die Verträge zur Realisierung des Bauvorhabens zu kündigen oder nicht. Sie entschieden sich mit 58,9 Prozent der abgegebenen Stimmen dagegen.

Die Volksabstimmung über "Stuttgart 21" kann als Musterbeispiel für eine gelungene Form direkter Demokratie angesehen werden. Nicht nur, weil Volkes Stimme im wahrsten Sinne des Wortes zählte, sondern auch weil die Abstimmung zumindest teilweise zur Befriedung eines Streits innerhalb der Gesellschaft beitrug. Die Abstimmung offenbarte aber auch eine Reihe grundsätzlicher Probleme. Zum Beispiel warf sie die Frage, wer eigentlich über was abstimmen darf. Geht es den Mannheimer etwas an, ob in Stuttgart ein Bahnhof gebaut wird oder nicht? Offensichtlich ja, denn abgestimmt wurde über ein Landesgesetz und das Land Baden-Württemberg beteiligt sich an der Finanzierung mit Steuergeldern. Umgekehrt lässt sich argumentieren, ein Hamburger Bürger habe ebenfalls ein Mitspracherecht, da auch Steuergelder aus dem Bundeshaushalt in das Projekt fließen. Und ein Reisender aus Dresden nutzt den Bahnhof ebenso wie der aus Stuttgart.

Ebenso gravierend ist die Frage nach der Legitimierung, die eine solche Volksabstimmung darstellt. Gerade mal 48,3 Prozent der stimmberechtigten Baden-Württemberger fanden den Weg an die Wahlurnen, um über "Stuttgart 21" zu entscheiden. An der Landtagswahl im März hatten sich immerhin noch 60,4 Prozent der Wahlberechtigten beteiligt.

In der Diskussion um die Aufnahme von plebiszitären Elementen in das Grundgesetz wird von Seiten der Befürworter gerne das Argument angeführt, dies würde das erlahmende Interesse der Bürger an der Politik und die Demokratie insgesamt beleben. Doch die geringe Beteiligung an der Volksabstimmung in Baden-Württemberg zeigt, dass dieses Argument nicht zwingend stichhaltig ist.

Quorums-Regel

In den meisten Bundesländern reicht es deshalb bei einer Volksabstimmungen auch nicht aus, die Mehrheit der abgegeben Stimmen für ein Vorhaben zu erreichen, sondern es muss ein Quorum bei den Stimmberechtigten erreicht werden. An dieser Hürde scheiterte beispielsweise 2008 eine Volksinitiative in Berlin mit dem Ansinnen, den Flughafen Tempelhof weiter zu betreiben. Zwar hatten 60,1 Prozent der abgegeben Stimmen dafür votiert. Aber da sich nur 36,1 der stimmberechtigten Berliner an der Volksabstimmung beteiligt hatten, entsprach dies nur einer Zustimmungsquote von 21,7 Prozent der Stimmberechtigten - 25 Prozent hätten es sein müssen. Bei verfassungsändernden Volksabstimmungen ist in den meisten Bundesländern gar ein Quorum von 50 Prozent vorgeschrieben.

Grundgesetz

Während inzwischen in allen 16 deutschen Ländern Volksabstimmungen gesetzlich verankert sind, sieht das Grundgesetz dies hingegen ausdrücklich nur in zwei konkreten Fällen vor - dann aber verpflichtend. Zum einen, wenn das Bundesgebiet nach Artikel 29 neu geordnet werden soll. Zuletzt kam dies im Mai1996 zur Anwendung als die Länder Berlin und Brandenburg fusionierten wollten. Doch die Brandenburger lehnten dies im Gegensatz zu den Berlinern mehrheitlich ab. Laut Grundgesetz muss jedoch in den betroffenen Ländern unabhängig voneinander eine Mehrheit erzielt werden.

Neue Verfassung

Der zweite Fall einer Volksabstimmung war nach Artikel 146 eigentlich für die Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands vorgesehen. Dann sollte eine Verfassung das Grundgesetz ablösen, über das das gesamte deutsche Volk abstimmt. Doch es kam anders: Die DDR trat 1990 nach dem damals gültigen Artikel 23 schlicht dem Geltungsbereich des Grundgesetzes bei. Im Fall einer umfassenden Grundgesetzrevision könnte der Artikel 146 jedoch zum Tragen kommen.

Ausgeschlossen sind im Grundgesetz weitere Möglichkeiten für Volksabstimmungen jedoch nicht. Im Gegenteil: In Artikel 20, Absatz 2 heißt es ausdrücklich, dass die Staatsgewalt "vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtssprechung ausgeübt" wird. Seit den 1990er Jahren ist der Ruf nach mehr direktdemokratischen Beteiligungsformen auf Bundesebene kontiniuierlich lauter geworden. Doch bislang sind alle diesbezüglichen Initiativen im Bundestag gescheitert. Zuletzt erging es so im Juni dieses Jahres der SPD-Fraktion mit einem Gesetzentwurf zur Einführung eines dreistufigen Beteiligungssystems durch Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid beziehungsweise Referendum ins Grund- gesetz. Ähnliche Gesetzentwürfe der Linken und Bündnis 90/Die Grünen waren in der Vergangenheit ebenfalls mehrheitlich abgelehnt worden.

Wahlprogramme

Inzwischen hat neben den drei Oppositionsfraktionen auch die FDP die Forderung nach diesen direktdemokratischen Elementen in ihr Wahlprogramm aufgenommen. Selbst die CSU will die Deutschen zukünftig zumindest über grundlegende Entscheidungen in der Europäischen Union abstimmen lassen. Wie ernst es den Parteien mit ihrer Forderung ist, bleibt allerdings abzuwarten. Fakt ist, dass alle Bundestagsfraktionen ihre konkreten Anträge oder Gesetzesvorlagen für die Verankerung von Volksentscheiden immer nur aus der Opposition heraus einbrachten.

Weiterhin ablehnend gegenüber Volksentscheiden zeigt sich die CDU. Sie befürchtet eine Schwächung der parlamentarischen Demokratie, die der Bundesrepublik in den vergangenen Jahren zu ihrer politischen Stabilität verholfen habe. Ohne eine Mitwirkung der Union ist eine Grundgesetzänderung mit der benötigten Zweidrittel-Mehrheit bei den derzeitigen Mehrheitsverhältnissen im Bundestag aber nicht machbar.

Eines der gängigsten Argumente gegen Volksentscheide lautet, dies würde Demagogen und Populisten Tür und Tor öffnen, Entscheidungen würden eher nach schwankenden Tagesstimmungen getroffen als nach längerfristigen und sachlichen Erwägungen. Neu ist dieser Vorwurf nicht. Selbst in der amerikanischen Revolution im späten 18. Jahrhundert tat man sich schwer mit einer ungebremsten direkten Demokratie. Als abschreckendes Beispiel galt auch die attische Demokratie. "Wäre auch jeder athenische Bürger ein Sokrates gewesen, so wären doch immer noch jede Volksversammlung der Athener eine des Pöbels gewesen", gab James Madison, einer der Gründerväter der Vereinigten zu Staaten, zum Besten. Und für seinen Kollegen Alexander Hamilton waren die antiken Demokratien in "ihrem Charakter nach Tyranneien".

In der Tat kann eine reine Mehrheitsdemokratie schnell zu Lasten von Minderheiten agieren. Als Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit gilt die Volksabstimmung in der Schweiz im November 2009, in der eine Mehrheit für ein Bauverbot für Minarette an islamischen Moscheen gestimmt hatte.

Als Gegenargument lässt sich jedoch anführen, dass auch Parlamentswahlen in einer repräsentativen Demokratie ebenso anfällig sind für Populisten. Die Wahlerfolge rechtsextremistischer Parteien in ganz Europa in den vergangenen Jahren haben dies gezeigt. Zudem wären Volksabstimmungen den im Grundgesetz geschützten Grund- und Minderheitenrechten unterworfen.

Einen deutlichen Auftrieb erhielten die Forderungen nach mehr Bürgerbeteiligung durch den Siegeszug des Internets. Der amerikanische Vize-Präsident Al Gore träumte gar von einem "neuen athenischen Zeitalter der Demokratie". Auch in Deutschland erkannten die Befürworter direktdemokratischer Elemente schnell das Potenzial des Internets. Endlich schien das geeignete Instrument verfügbar, um auch in großen Flächenstaaten schnell und unkompliziert den Bürger direkt an politischen Entscheidungen zu beteiligen. Immerhin haben solche Vorstellungen den kurzfristig rasanten Aufstieg der Piratenpartei beflügelt, die mit ihrem Konzept der "liquid democracy" einer internetbasierten Mischform von repräsentativer und direkter Demokratie frönen.

Solche Träumerreien ignorierten allerdings den Umstand, dass es für eine Volksabstimmung selbstverständlich keines digitalen Datennetzes bedarf. Dafür genügt genau wie bei einer Wahl ein Stimmzettel. Die Frage, inwieweit plebiszitäre Elemente in einem politischen System verankert werden, hängt in erster Linie vom politischen Willen ab.

Transparenz

Zumindest in einer Hinsicht sind die Erwartungen an das neue Medium jedoch in Erfüllung gegangen: Noch nie konnten sich Bürger so schnell und umfassend über politische Initiativen und Entscheidungsprozesse informieren. Allein das Online-Angebot des Bundestages bietet einen umfassenden Zugriff auf parlamentarische Vorgänge, Debatten und Orginaldokumente. Hinzu kommt die Möglichkeit elektronischer Petitionen, die in den vergangenen Jahren durch die Bürger mehrfach erfolgreich genutzt wurden.

Nicht zu leugnen ist, dass das Internet über ein enormes demokratisches Potenzial verfügt. Die Verbreitung von regierungsunabhängigen Informationen und die Organisation von Widerstand und Revolutionen in der arabischen Welt haben dies eindrucksvoll belegt. Die kommunistische Führung Chinas und andere diktatorische Systeme behalten sich nicht ohne Grund vor, den digitalen Informationsfluss in ihren Ländern so gut es eben geht zu kontrollieren.

Enquete-Kommision

Die Enquete-Kommission des Bundestages "Internet und digitale Gesellschaft" hat sich in dieser Legislaturperiode ausführlich mit der Frage auseiandergesetzt, welche Formen der Bürgerbeteiligung über das Internet möglich sind und was dafür gewährleistet sein muss. Sie ist dabei selbst auch mit gutem Beispiel vorangegangen. So ermöglichte sie es interessierten Bürgern, sich über die Internetplattform "Adhocracy" mit ihren eigenen Vorstellungen in die Arbeit der Kommission einzubringen. In ihrem Abschlussbericht stellt die Internet-Enquete zugleich aber sehr deutlich klar: "Das Prinzip der repräsentativen Demokratie ist auch in einer digitalen Gesellschaft das vorzugswürdige Modell." Das erinnert ein wenig an einen Satz des Revolutionsführers Robespierre. Dieser schrieb den Franzosen ins Stammbuch, dass die Demokratie kein System sei, "in dem sich das Volk ständig versammelt und alle öffentlichen Angelegenheiten selbst regelt". Ständig wohl nicht, aber ausgeschlossen ist es nicht. Die nächste Volksabstimung kommt am 22. September mit der Bundestagswahl.