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Schritt für Schritt auf Augenhöhe

MITWIRKUNG Das lange Ringen des Europaparlaments um mehr Kompetenzen

05.08.2013
2023-08-30T12:24:03.7200Z
3 Min

Dem Präsidenten des Europäischen Parlaments platzte der Kragen: Hinterzimmerpolitik betrieben die Staats- und Regierungschefs mit ihrem Euro-Krisenmanagement, nach Art des Wiener Kongresses walteten sie bei EU-Gipfeln hinter verschlossenen Türen, um hernach vor das erstaunte Publik zu treten und zu verkünden, was sie alles nicht entschieden hätten. So wetterte Martin Schulz (SPD) Anfang des Jahres. Im Kern ist der Vorwurf so alt wie das Europäische Parlament selbst: Dass nämlich die nationalen Regierungen den Rat zum zentralen Ort von wichtigen Entscheidungen machen und den Parlamentariern den Katzentisch zuweisen würden.

Mehr Mitsprache Die Geschichte des Europaparlaments ist wie bei so vielen Parlamenten eine Geschichte des ständigen Ringens und Erstreitens von mehr Mitspracherechten. Sie beginnt 1952 mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und der Einrichtung einer "Gemeinsamen Versammlung". Diese besteht zunächst aus 78 aus den nationalen Parlamenten entsandten Abgeordneten und hat lediglich beratende Funktion. Der erste entscheidende Schritt zu mehr Mitsprache kommt 1971 mit der Beteiligung am Haushaltsverfahren und schließlich 1975 mit einer Ausweitung dieser Kompetenz zum Budgetrecht. Seither muss jeder EU-Haushalt vom Parlament gebilligt werden. In diese Zeit fällt auch eine zweite wichtige Weichenstellung. Die Abgeordneten nehmen 1975 den Entwurf eines Vertrages zur Direktwahl des Europaparlaments an, vier Jahre später, 1979, finden die ersten Wahlen in den mittlerweile neun Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft (EG) statt.

Der nächste große Schritt folgt 1986: Die Einheitliche Europäische Akte, die erste umfassende Vertragsreform der EG, verschafft dem Parlament mehr Kompetenzen: Es kann nun im Bereich Binnenmarkt Änderungsvorschläge bei Gesetzentwürfen einbringen und erhält ein Zustimmungsrecht in Fragen des Beitritts potentieller Mitglieder zur EG. Mit dem Vertrag von Maastricht (ab 1993) und der Einführung des sogenannten Mitentscheidungsverfahrens wird die Volksvertretung in vielen Politikbereichen zum gleichberechtigten Mitspieler neben dem Rat in der Gesetzgebung. Neu sind zudem eine ganze Reihe von Kontrollrechten: Die Einsetzung der EU-Kommission wird zustimmungspflichtig, die Abgeordneten haben die Möglichkeit eines Misstrauensvotums gegen die Kommission und zudem das Recht, Untersuchungsausschüsse einzurichten. Die Verträge von Amsterdam (ab 1999) und Nizza (ab 2001) erweitern die Politikbereiche, in denen das Mitenscheidungsverfahren zu Anwendung kommt. Mit dem Vertrag von Lissabon (ab 2009) wird das Mitenscheidungsverfahren schließlich zur Regel, Gesetze ohne Mitsprache des Parlaments werden zur Ausnahme. Das Initiativrecht für die Gesetzgebung verbleibt aber bei der EU-Kommission.

Dass die Abgeordneten die erstrittenen Rechte auch nutzen, zeigt eine ganze Reihe von Beispielen: 1996 beziehungsweise 2000 beweist des Parlament mit Untersuchungsausschüssen zur BSE-Krise und zum Abhörsystem Echelon beharrlich seine Unabhängigkeit. 1999 bewirkt das Parlament den Rücktritt der gesamten EU-Kommission unter Kommissionspräsident Jacques Santer wegen Korruptionsvorwürfen. Ein Misstrauensvotum war zuvor im Parlament allerdings gescheitert. Auch bei Gesetzgebungsverfahren wird das Parlament mehr und mehr zur echten Hürde für Kommission und Rat - das zeigen etwa die Kompromisse bei der Dienstleistungsrichtlinie und bei der Chemikalienrichtlinie im Jahre 2006. Bereits 2005 ließen die Parlamentarier eine geplante Richtlinie zur Patentierung von Software platzen, nachdem Rat und Kommission Änderungswünsche der Parlamentarier ignoriert hatten.

Reformvorschläge Und die Zukunft? Vor dem Hintergrund der Banken- und Staatsschuldenkrise wurde wiederholt eine umfassende Fortentwicklung des Verfassungsgefüges der EU diskutiert. Einen Schritt in diese Richtung stellt der Vorschlag der Europaparlamentarier dar, mit Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten in die Wahl im Mai 2014 zu gehen (siehe Beitrag oben). Ob das so kommt, bleibt fraglich, nicht zuletzt die nationalen Regierungen werden an ihrem Privileg, diese Personalie im Rat unter sich auszumachen, wohl festhalten wollen. Die Geschichte des Europäischen Parlaments aber zeigt, dass sie auf mittlere Sicht die Rechnung nicht ohne die Parlamentarier machen können.