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Über Bande gespielt

EUROPA Der Bundestag hat in der Europapolitik an Einfluss gewonnen - mit Rückenwind aus Karlsruhe

05.08.2013
2023-08-30T12:24:03.7200Z
4 Min

Für Manuel Sarrazin (Bündnis90/Die Grünen) war es ein Tag, der ihm in Erinnerung bleiben wird. Als er im Juni 2012 als einer der Vertreter seiner Fraktion im holzgetäfelten Saal des Bundesverfassungsgerichts das Urteil der Karlsruher Richter hörte, "da dachte ich nur "cool", erzählt er lachend im nachhinein. Seine Fraktion hatte damals gegen die Bundesregierung geklagt. Die Grünen kritisierten, dass der Bundestag bei den Maßnahmen zur Euro-Rettung nicht ausreichend beteiligt sei, so wie es Artikel 23 des Grundgesetzes und das EU-Beteiligungsgesetz (EUZBBG) eigentlich vorsehen: frühzeitig, umfassend und fortlaufend.

Bei seinem Urteil habe sich das Gericht die Mühe gemacht, gerade diese Begriffe verfassungsrechtlich zu definieren und sei "mit 120 Prozent über unsere Forderungen hinausgegangen", freut sich Sarrazin. Schon lange war ihm und vielen anderen Abgeordneten, die sich für Europa engagieren, ein Dorn im Auge, dass die Regierung das Parlament oftmals nur spärlich unterrichtet hatte, wie etwa im Vorfeld der Verabschiedung des Vertrages über den europäischen Stabilitätsmechanismus ESM.

Reihenweise Ablehnungen

Die Bundesregierung hatte argumentiert, dass es sich beim ESM-Vertragsentwurf nicht um eine EU-Angelegenheit, sondern um einen völkerrechtlichen Vertrag handle, der Sache der Regierungen sei. Den entsprechenden Text zum ESM-Vertrag hatten die Grünen dann auch nicht zuerst von der Regierung, sondern durch Kollegen des österreichischen Parlaments erhalten. Auch davor hatten Sarrazin und andere Abgeordnete immer wieder bei der Regierung um Informationen nachgefragt - und reihenweise Ablehnungen kassiert, bis sie über Bande spielten und in Karlsruhe erfolgreich klagten.

Das Urteil zum ESM-Vertrag war aber nur eines von insgesamt vier europapolitisch relevanten Entscheidungen in der 17. Wahlperiode, die den Einfluss des Bundestags, aber auch die Ansprüche an seine Europafähigkeit entscheidend verändert haben: mit dem ersten Urteil im September 2011 billigte das Verfassungsgericht zwar die Milliardenhilfe für Griechenland, hob aber die Autonomie des Bundestages in Haushaltsfragen hervor. Wenige Monate später im Februar 2012 erteilten die Karlsruher Richter in einem zweiten Urteil dem Plan für ein Untergremium des Haushaltsausschusses eine Absage. Beim ESM-Urteil, der dritten Entscheidung in Sachen Europa, kritisierten die Richter vor knapp einem Jahr im September 2012, dass das Parlament beim Euro-Plus-Pakt, einem europäischen Programm zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit, viel früher hätte informiert werden müssen. Michael Stübgen, der für die CDU im Europaausschuss sitzt, hat die Karlsruher Rechtsprechung intensiv begleitet. "Es hat eine inhaltliche Auseinandersetzung zwischen Bundestag und Regierung gegeben und die ist jetzt geklärt", sagt er.

Um die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Stärkung des Mitwirkungsrechte umzusetzen, beschlossen im April dieses Jahres alle fünf Fraktionen das bereits bestehende Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundestag und Bundesregierung, EUZBBG genannt, neu zu schreiben. So sieht das Gesetz (17/12816) unter anderem vor, dass die Zusammenarbeit nach Artikel 23 des Grundgesetzes fortan auch für alle völkerrechtliche Verträge gilt, die Europaangelegenheiten betreffen. Außerdem wird darin klarer geregelt, wie die Bundesregierung den Bundestag informieren muss, damit das Parlament so rechtzeitig über europäische Vorhaben Bescheid weiß, um selbst darauf Einfluss nehmen zu können. "Das EUZBBG bringt zusammen mit dem Urteil ein ganz neues Niveau, wie das Parlament in die Lage versetzt werden kann, Einfluss zu nehmen", beurteilt Sarrazin die neue Rechtsgrundlage und auch Stübgen ist damit zufrieden: "Im wesentlichen funktionieren die Strukturen gut. Das heißt der Bundestag ist Akteur der Europapolitik."

Dokumentenflut

Um gleichberechtigter Mitspieler sein zu können, hat der Bundestag in den vergangenen Jahren große Anstrengungen unternommen, denn Europa bedeutet für die tägliche Arbeit der Abgeordneten erst einmal eine Unmenge an Papier: Allein im Jahr 2012 gingen in der Verwaltung des Bundestag offiziell über 21.000 verschiedene Dokumente in Sachen Europa ein. Vereinfacht ausgedrückt sind etwa die Hälfte der Dokumente Gesetzentwürfe und sich darauf beziehende Unterlagen vom Europäischen Rat und dem Europäischen Parlament. Die andere Hälfte sind Dokumente, die von der Bundesregierung verfasst werden, wie zum Beispiel Berichte von Europäischen Räten. In der eigens dafür aufgebauten Datenbank EUDoX, die übrigens von einem griechischen IT-Anbieter stammt, wird genau vermerkt, wer, wann welches Dokumente geschickt hat und ob es möglicherweise vertraulich ist. Für die Arbeit der Abgeordneten besonders wichtig ist, dass die Dokumente, die ein Themengebiet betreffen in Dossiers einander zugeordnet und vorsortiert werden, um effektiv bearbeitet werden zu können. "Die neue Unterabteilung Europa der Bundestagsverwaltung ist die neutrale und fachliche Vorabsichtung", erklärt Stübgen. Angesichts dieser Informationsflut räumt sein Kollege Sarrazin aber auch ein: "Ich lese nicht alles, in der Europapolitik braucht man eine gute Priorisierung und anschließend einen guten Papierkorb oder eine Löschtaste." Die Europa-Dokumentation ist Teil einer zu Beginn des Jahres neu geschaffenen Europaunterabteilung, mit der die Verwaltung des Bundestags neue Strukturen geschaffen hat, um auf die größeren Mitwirkungsrechte und damit gestiegenen Anforderungen an das Parlament noch effektiver reagieren zu können. Zu dem neuen Gremium zählen neben dem Verbindungsbüro des Bundestages in Brüssel beispielsweise auch eine Arbeitseinheit, die sich mit EU-Grundsatzangelegenheiten in Fragen der Wirtschafts- und Währungsunion befasst, oder Experten, die sich speziell mit der der Prioritätensetzung von EU-Vorhaben beschäftigen, um so eine eigene Analyse gegenüber der der Bundesregierung anbieten zu können. Stübgen und Sarrazin wissen, dass das Wort des Bundestages bei den europäischen Institutionen mehr Gewicht bekommen hat, aber auch, dass damit in Zukunft eine noch größere Verantwortung verbunden ist. So gilt, was Stübgen schon bei der Verabschiedung der Begleitgesetze zum Lissabon Vertrag im Jahr 2009 gesagt hatte, heute mehr denn je: "Wir werden in Zukunft viel mehr Arbeit haben und deutlich weniger Ausreden."