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"Legislatur maßvoll erweitern"

NORBERT LAMMERT Der neue und alte Bundestagspräsident über die Herausforderungen der 18. Wahlperiode

28.10.2013
2023-08-30T12:24:06.7200Z
5 Min

Herr Präsident, am Ende der jetzt beginnenden 18. Legislaturperiode wären Sie zwölf Jahre Bundestagspräsident und damit neben Eugen Gerstenmaier der dienstälteste Präsident überhaupt. Erwächst daraus, auch vor dem Hintergrund Ihres beeindruckenden Wahlergebnisses, eine besondere Verpflichtung?

Das eine wie das andere reicht eigentlich völlig aus, um eine besondere Verpflichtung zu empfinden. Ich habe das im Übrigen auch gleich nach Annahme meiner Wahl erklärt. Ein solches Ergebnis und noch dazu am Beginn einer dritten Amtszeit ist sowohl eine besondere Ermutigung wie eine besondere Verpflichtung.

Der neue Bundestag hat sechs Vizepräsidenten und damit einen mehr als der alte, obwohl es mit dem Ausscheiden der FDP jetzt eine Fraktion weniger gibt. Warum?

Wir haben aus guten Gründen in der Geschäftsordnung eine flexible Regelung, die den unterschiedlichen Mehrheitsverhältnissen und Fraktionsgrößen im Deutschen Bundestag Rechnung tragen soll: Jede Fraktion soll mit mindestens einem Mitglied im Präsidium vertreten sein. Deshalb hat es folgerichtig in den vergangenen Legislaturperioden auch immer wieder Veränderungen in der Größenordnung wie in der Zusammensetzung des Präsidiums gegeben. Die jetzt beschlossene Anzahl der Vizepräsidenten ist weder rechtlich zwingend noch ist sie politisch willkürlich und unvertretbar, sondern mit Blick auf die Zusammensetzung dieses Bundestages und der Stärkeverhältnisse der Fraktionen mit großer Mehrheit so beschlossen.

Eine Große Koalition, über die derzeit verhandelt wird, hätte eine sehr schwache Opposition zur Folge. Grundgesetz und Geschäftsordnung des Bundestages würden dann in der bestehenden Form die Ausübung der Oppositionsrechte erheblich einschränken. Wie ist damit umzugehen?

Eine Große Koalition hat immer eine kleinere, aber nicht zwingend eine schwache Opposition zur Folge. Damit die Opposition nicht strukturell schwach ist, gibt es eine Reihe von geschriebenen und ungeschriebenen Minderheitsrechten, auf die sich nicht nur die betroffenen Fraktionen berufen können, sondern ein Parlament in seinem Selbstverständnis Wert legen muss. Das habe ich in meiner Rede bei der Konstituierung deswegen auch unmissverständlich reklamiert und hatte den Eindruck, dass dies auch die Zustimmung des ganzen Hauses findet.

Was genau ist zu tun? Manche halten eine Änderung des Grundgesetzes für nötig, etwa um das Quorum zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses oder für eine Normenkontrollklage zu senken.

Aus meiner Sicht ist das Wichtigste, dass sich alle Beteiligten über die Erklärung des guten Willens hinaus nun um praktikable Regelungen bemühen. Ob es überhaupt und an welcher Stelle es zwingend gesetzliche oder gar verfassungsrechtliche Veränderungen erfordert, das muss man im Zuge dieses Klärungsprozesses entscheiden. Jedenfalls erscheint es mir als übertriebener Ehrgeiz, verfassungsrechtliche oder gesetzliche Änderungen in jedem Falle herbeiführen zu wollen, zumal man wissen muss, dass dies eine Lösung in der Sache eher erschwert als erleichtert.

Der Bundestag kann in dieser Frage nicht hinter den Anforderungen des Grundgesetzes zurückbleiben ...

So ist es.

… das Parlament kann aber gegebenenfalls über das Grundgesetz hinausgehen.

Mindestens ist das eine Auffassung, die auch unter Verfassungsrechtlern prominent vertreten wird. Ich kann keine unüberwindliche rechtliche Hürde erkennen, die den Bundestag in Fragen, bei denen er selbst betroffen ist und nicht die Rechte Dritter berührt werden, daran hindern würde, den in der Verfassung garantierten Minderheitenanspruch nicht zu unterbieten, sondern zu überbieten.

Wie müssten denn die Spielregeln für die Redezeit im Plenum verändert werden?

Auch hier wird man zwischen formalisierten und nicht formalisierten Veränderungen unterscheiden können und vielleicht auch müssen. Die Redezeiten sind nicht nur nicht gesetzlich geregelt, sie sind auch nicht in der Geschäftsordnung festgelegt. Es gibt aber immer eine Vereinbarung über die Verteilung der Redezeiten, die sich vernünftigerweise an den Stärkeverhältnissen der Fraktionen orientiert. Das würde im konkreten Fall zweifellos in einen gewissen Widerspruch zu der Festlegung der Geschäftsordnung geraten, dass bei der Erteilung von Wortmeldungen dem Prinzip von Rede und Gegenrede, allerdings auch dem Stärkeverhältnis Rechnung getragen werden soll. Ob dem jeweils amtierenden Präsidenten zur Erleichterung seiner Geschäfte dazu eine förmliche Übereinkunft zwischen den Fraktionen weiterhelfen könnte, ist in den vereinbarten Gesprächen zu klären.

Sie hatten auch eine Neugestaltung der Regeln zur Regierungsbefragung und in der Fragestunde angeregt. Welche konkreten Vorstellungen habe Sie da im Blick?

Mich ermutigt, dass ich zu dieser Anregung jedenfalls keine einzige gegenteilige Rückmeldung bekommen habe. Dass die Fragestunde nicht unser Paradestück ist, wird also von niemandem bestritten. Allerdings ist hier wie in anderen lang praktizierten Verfahren die Innovationsfreude begrenzt und das Beharrungsvermögen ausgeprägt. Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode schon mit Veränderungen begonnen, insbesondere mit einer deutlichen Verkürzung der verfügbaren Zeiten sowohl für die Fragen wie für die Antworten. Auch hier wird man in einem Gespräch mit den Fraktionen ausloten müssen, zu welchen Veränderungen die Beteiligten bereit sind.

Sie haben angemahnt, erneut über das Wahlrecht nachzudenken, um die Zahl der Abgeordneten besser einzugrenzen. Wie könnte das geschehen?

Es gibt eine Reihe von Gestaltungsmöglichkeiten. Die einfachste Veränderung bestünde in der Rückkehr zu einem Einstimmenwahlrecht, das unter Aufrechterhaltung der gesamten Konstruktion unseres Wahlsystems am Ende ohne jede Überhangmandate genau die 598 Mandate vergeben würde, die laut Gesetz die Stärke des Bundestags ausmachen.

Diskutiert wird als Ergebnis der Bundestagswahl auch über eine Absenkung der Fünf-Prozent-Hürde, wegen der dieses Mal mehr als 15 Prozent der abgegeben Stimmen wirkungslos geblieben sind. Hielten Sie eine Absenkung, etwa auf drei Prozent wie bei der Europawahl, für sinnvoll?

Nein. Das Bundesverfassungsgericht hat die Fünf-Prozent-Klausel bei Bundestagswahlen mehrfach geprüft und ausdrücklich bestätigt. Abgesehen davon muss man sich hier wie auch in anderen Zusammenhängen vor der Versuchung schützen, je nach Wahlergebnis Quoren hinauf oder herunter zu setzen. Insgesamt haben sie ihren guten Sinn und haben sich im Großen und Ganzen bewährt. Die Fünf-Prozent-Klausel hat jedenfalls nicht verhindert, dass es nach den Entscheidungen der Wählerinnen und Wähler immer wieder signifikante Veränderungen in unserem Parteiensystem und in dessen Repräsentanz im Bundestag gegeben hat.

Sollte man im Zuge einer möglichen Wahlrechtsreform auch über die Verlängerung der Legislaturperiode nachdenken?

Ich persönlich habe das vielfach öffentlich vertreten. Man muss allerdings wissen, dass wir interessanterweise im Grundgesetz keine Festlegung auf das Wahlsystem, wohl aber eine Festlegung auf die Dauer der Legislaturperiode haben. Wir reden hier also über eine Verfassungsänderung. Die halte ich persönlich für richtig, weil es nicht nur eine beachtliche Regelmäßigkeit von Wahlentscheidungen auf Kommunal-, Landes-, Bundes- und Europa-Ebene, sondern auch einen zunehmenden Ausnahmecharakter der vierjährigen Legislaturperiode gibt: Außer Bremen haben inzwischen alle Bundesländer eine fünfjährige Legislaturperiode, auch das Europaparlament und die meisten nationalen Parlamente in Europa werden für fünf Jahre gewählt. Insofern ist es naheliegend, auch im Bund eine maßvolle Verlängerung der Legislaturperiode ins Auge zu fassen, die den vor und nach Wahlkämpfen verfügbaren Gestaltungszeitraum erweitert.