Piwik Webtracking Image

Auf vier weitere Jahre

KONSTITUIERUNG Tom Koenigs und Nadine Schön kamen 2009 ins Parlament. Ihr Blick zurück und nach vorne

28.10.2013
2023-09-22T12:21:53.7200Z
8 Min

Hätte Tom Koenigs für die Konstituierung des Bundestages an diesem strahlenden Herbsttag einen Wunsch frei gehabt, wäre dies von weither sichtbar gewesen: Statt einer der Deutschlandfahnen hätte auf einem der Ecktürme des Reichstagsgebäudes die weiß-blaue Fahne der Vereinten Nationen geweht - sowie schon jetzt die Europafahne. Für den Grünen-Abgeordneten sind die Vereinten Nationen das Thema, in das er in den letzten vier Jahren am meisten Herzblut gesteckt hat. "Die Vereinten Nationen sind jetzt präsenter, das ist wichtig", sagt er. Dabei schwingt ein bisschen Stolz mit, aber auch etwas Wehmut, dass die Weltorganisation in der Politik noch nicht die Sichtbarkeit hat, die sie seiner Meinung nach eigentlich verdient hätte.

Wenn der grauhaarige, schmal wirkende Koenigs über die United Nations (UN) spricht, ist das bei ihm, wie bei vielen anderen Themen auch, eng mit seiner eigenen Lebensgeschichte verknüpft. Vor vierzehn Jahren, 1999, nachdem er bereits einmal vergeblich für den Bundestag kandidiert hatte, war er für die UN erst in den Kosovo, dann nach Guatemala und von 2002 bis 2007 als Chef der zivilen UN-Mission nach Afghanistan gegangen. Danach war er 65 Jahre alt und hätte eigentlich seinen Ruhestand genießen können. Aber als er vor der Alternative stand - "freundlicher Pensionär oder noch einmal Politik mitgestalten" - musste er nicht lange überlegen.

Als Koenigs vor vier Jahren über die hessische Landesliste in den Bundestag einzog, war er zwar offiziell ein Novize, inoffiziell gehörte er aber in seiner Fraktion schon damals zur "politischen Prominenz". Das politische Geschäft und die Ränkespiele um Macht und Einfluss brauchte ihm niemand zu erklären. Seine Biographie mit ganz unterschiedlichen Stationen, ob als Schweißer beim Autobauer Opel, als Büroleiter des ersten Ministers der Grünen in Hessen, Joschka Fischer, oder als Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung, gab ihm für die neue Aufgabe als Parlamentarier Souveränität und Gelassenheit. Vor allem aber auch die Gewissheit, dass er bei vielen Fragen aus dem Fundus seiner Lebenserfahrungen schöpfen konnte. Es war daher nicht erstaunlich, dass Koenigs als "Bundestagsneuling" gleich den Vorsitz des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe übernahm.

Bewusstsein schaffen

Neben den Vereinten Nationen war ihm im Ausschuss in der vergangenen Wahlperiode das Thema Diskriminierung ein besonderes Anliegen. "Wenn man Menschenrechte als Kampf um die Würde des Menschen betrachtet, dann sind Verletzungen der Menschenrechte oft Diskriminierungen", sagt er. Auch mit der Situation von Flüchtlingen und der humanitären Hilfe hat sich der Ausschuss unter seinem Vorsitz intensiv beschäftigt - nicht erst seit der Katastrophe von Lampedusa. Koenigs nennt es einen "Bewusstseinserfolg", dass die Flüchtlingsfrage "zu einem wirklichen Thema geworden ist, obwohl von verschiedenen Seiten versucht wird, es klein zu machen oder zu verschweigen", sagt der 69-Jährige. Das alles, räumt Koenigs ein, seien keine Sachen, von denen man sagen könne, dass "dabei ein Gesetz entstanden sei". Aber es ist ihm wichtig zu betonen, dass man eben auch als Oppositionsfraktion Gesetze beeinflusst habe, etwa bei der Debatte über die Beschneidung. Eines der Themen, bei dem Koenigs sich hätte vorstellen können, auch gegen seine Fraktion zu stimmen, wenn der Beschluss gegen seine Prinzipien verstoßen hätte. Auf die Frage, wie ein unabhängiger Geist wie er mit Hierarchien und Vorgaben seiner Fraktion umgeht, kommt es spontan aus ihm heraus: "Der einzelne Abgeordnete hat viel zu sagen und den Schmäh über den Fraktionszwang finde ich irrelevant." Denn wenn es nur 63 Einzelmeinungen gibt, dann erreicht man gar nichts, sagt er.

Auch wenn er mit der ihm eigenen sanften Beharrlichkeit im Ausschuss vieles auf den Weg bringen konnte, gab es in den vergangenen Jahren auch Enttäuschungen: "Ich hatte die Hoffnung, dass man bei einem Thema wie den Menschenrechten über den Ausschussvorsitz auch die unterschiedlichen Parteien zusammenbekommt", sagt er. Auch wenn er sich mit vielen seiner Kollegen über die Parteigrenzen hinweg gut versteht, ist diese Hoffnung enttäuscht worden, "weil es politische Kräfte gibt, die den Wert der gemeinsamen Ausschusssitzung geringer erachten als die Polarisierung", bedauert er.

Für ihn eine bittere Erfahrung, denn Koenigs zeichnet aus, dass er immer wieder versucht, Ziele im Konsens zu erreichen. "Das Ausgrenzen führt zu nichts. Das Parlament ist eine Institution der Integration", betont er. Sein Respekt für die Institution Parlament komme sehr stark aus Ländern wie Afghanistan oder Guatemala, wo man sehen könne, wie schwer sich diese Länder damit täten. Seine Fähigkeit, über den Tellerrand schauen zu können, gibt ihm innere Kraft und seiner Stimme Gewicht. Er sieht sich als Mann der Mitte: "Meine internationale Erfahrung hat mir gezeigt, dass die gesellschaftliche Verortung in rechts und links nicht mehr zeitgemäß ist und auf viele Fragen keine Antworten mehr gibt." Daher ist Koenigs kein Mann der lauten Worte oder gar der Basta-Politik. Er will überzeugen, kann zuhören. Nach vielen Jahren Politik ist er immer noch neugierig. Die Meinung eines Ministers interessiert ihn ebenso wie die eines Praktikanten. In all den Jahren ist er aber auch ein, wie er sagt, "Zweifler" geblieben. Feierstunden sind nicht seine Sache. "Wenn der Weihrauch zu dick aufsteigt, werde ich nervös, nicht nur im religiösen Sinne, sondern auch, wenn die Stimmen zu salbungsvoll sind", findet er.

Bürgerliche Kinderstube

Dabei verkörpert gerade der leise und bescheiden auftretende Koenigs fast schon etwas Aristokratisches. Der Nachfahre einer renommierten Kölner Bankiersfamilie, der Anfang der 1970-er Jahre sein Erbe an den vietnamesischen Vietkong und chilenische Widerstandsgruppen verschenkte, hat etwas von einem Großbürger, den nicht Geld oder Status interessieren, sondern Werte. Ein bitterer Schlag war es daher für Koenigs, als nach der Debatte über den früheren Umgang seiner Partei mit dem Thema Pädophilie, sein Büroleiter in Gießen wegen des Verdachts des Kindesmissbrauchs verhaftet wurde. Nachdem Koenigs davon Kenntnis erhalten hatte, schaltete er sofort die Polizei ein. Bei solchen aktuellen Verbrechen "muss man sofort handeln - und das hat mir konkret auch niemand vorgeworfen", sagt er heute dazu. Am Umgang mit der Pädophilie-Debatte in seiner Partei übt er durchaus auch Kritik: "Das ist ein Thema aus unseren Anfängen, das nicht abschließend und vor allem nicht so bearbeitet worden ist, wie wir es von anderen verlangen." In der nächsten Legislaturperiode hätte er die Grünen gerne in der Regierung gesehen. Denn für ihn, sagt er, sei eine Wahl nicht nur die "Diskussion eines Programms, sondern auch zukünftiger Machtoptionen". In den kommenden vier Jahren würde Koenigs gerne wieder im Menschenrechtsausschuss oder im Unterausschuss für die VN mitarbeiten. Daneben will sich Koenigs weiter in der Unicef-Gruppe für die Verankerung des Kindeswohls in der Verfassung einsetzen. Einen Konsens quer durch die Fraktionen hat er aber auch an ganz anderer Stelle gespürt: bei den im Jahr 2012 gegründeten "bundesAdlern" - dem ersten offiziellen Fanclub von Eintracht Frankfurt im Bundestag. Da versteht er sich auch mit politischen Gegnern und Gegnerinnen "hervorragend", wenn es darum geht, dem Fußballvorstand zu erklären, ob die Mannschaftsaufstellung so richtig war."

Zuerst war da Aufregung und Neugier. Der Bundestag war für mich eine Blackbox. Ich wusste ja nicht, was mich erwartet", gesteht Nadine Schön in Erinnerung an die konstituierende Bundestagssitzung 2009. Dann fügt sie fast entschuldigend hinzu: "Heute dominiert eher die Ungeduld. Ich bin gedanklich wohl schon in der ersten Sitzungswoche." Vier Jahre liegen zwischen dem Start der damals 26-jährigen CDU-Abgeordneten im Parlament und heute. Einiges hat sich seitdem verändert: Zum Beispiel ihr Name: Seit der Hochzeit mit ihrem Mann heißt sie nicht mehr Müller, sondern eben Schön. Das Haar jedoch trägt die Saarländerin noch immer hellblond und kurz, die Brille dunkel und markant.

Schön, die anfangs vor allem Schlagzeilen als "jüngste Abgeordnete der Union" machte, ist inzwischen im politischen Geschäft angekommen. Über "ihre Themen" Technologiepolitik, Fachkräftemangel und Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die sie als Mitglied des Wirtschaftsausschusses und des Familienausschusses beackerte, spricht sie ebenso engagiert wie kompetent. Etiketten wie "Fraktionsküken" oder "Nesthäkchen" mochte sie nie, sie passen auch nicht zu der jungen Frau aus Tholey, die den Wahlkreis 298 - bestehend aus den Landkreisen St. Wendel, Neunkirchen und Saarlouis - erneut direkt gewonnen hat. So war sie zwar in der Tat mit 21 und mitten im Jurastudium noch sehr jung, als sie ihr erstes Mandat im Saarländischen Landtag errang, doch ansonsten hat die geradlinig und geerdet wirkende Schön so gar nichts von einem Küken.

Die heute 30-Jährige, die studienbegleitend eine journalistische Ausbildung absolviert hat, musste dennoch lernen, mit der medialen Aufmerksamkeit umzugehen: "Natürlich hat es Vorteile, wenn der Name bekannt ist. Aber man sollte auch gut überlegen, was man von sich preisgibt. Es passiert schnell, dass man mit einem Satz zitiert wird, den man so gar nicht formulieren wollte", sagt sie. "So wurde ich schon in eine konservative Ecke gestellt, in die ich nicht gehöre." Schön schüttelt entschieden den Kopf. Auch mit Medienschelte daheim im Saarland war sie bereits konfrontiert: Als sie nach anfänglicher Kritik am Betreuungsgeld schließlich dem Gesamtkompromiss im November 2012 zustimmte, sei sie als "Quertreiberin und Opportunistin" dargestellt worden. "Unfair", findet sie das.

Großes Netzwerk

Schöns Tipp an junge Parlamentsneulinge wie etwa Mahmut Özdemir (SPD) und Emmi Zeulner (CSU) lautet deshalb: "Nicht jedes Interview machen." Ansonsten: "Authentisch bleiben und den Rat erfahrener Parlamentarier suchen". Ihr habe das sehr geholfen. In den vergangenen vier Jahren ist vor allem die Gruppe der Frauen in der CDU/CSU-Bundesfraktion zu ihrem Netzwerk, ihrer "Andock-Station" geworden. Deren bisherige Vorsitzende Rita Pawelski lobte Schön nicht nur als "hochkompetent, immens fleißig und bürgernah", sondern attestierte ihr auch eine "sehr positive Ausstrahlung". Kurz: Von Schön werde man noch hören, sagte Pawelski, die die junge Abgeordnete 2009 auch prompt zu ihrer Stellvertreterin machte.

Wie wichtig Netzwerke sind, hat Nadine Schön ebenfalls in Berlin gelernt. "Im Landtag waren wir ja nur 51 Abgeordnete, da traf man sich zum Mittagessen. Hier im Bundestag sind wir mehr als zehn Mal so viele. Da muss man Kontakte knüpfen - ohne ist man nichts." Die größte Herausforderung sei jedoch, den Spagat zu schaffen zwischen der Arbeit im Wahlkreis und im Bundestag. "Dort ist man für alle möglichen Themen und Anliegen der Bürger zuständig, hier in Berlin dominiert die Fachpolitik." Die Balance zwischen beidem gehalten zu haben, darauf ist sie stolz. "Ich habe gedacht, dass man als Neue im Bundestag Hinterbänklerin ist und wenig selbst machen kann - aber das hat sich nicht bewahrheitet", sagt sie im Rückblick.

Mit Kräften haushalten

Ihren Themen will Schön auch in Zukunft treu bleiben: "Ich hoffe, dass ich wieder den Wirtschaftsausschuss bekomme und meine Arbeit fortsetzen kann." Eins jedoch hat sie sich neu vorgenommen: Ein wenig besser mit den eigenen Kräften zu haushalten. Neben den zwei Ausschüssen, in denen sie ordentliches Mitglied war, saß sie bisher stellvertretend im Menschenrechtsausschuss sowie in zwei Enquete-Kommissionen - ein strammes Arbeitspensum. "Ich neige dazu, immer noch etwas draufzupacken, weil mich einfach viele Themen interessieren", erklärt Schön. Doch: "Ich habe festgestellt, dass es nichts bringt, zu viel zu machen. Es ist wichtig, sich abzugrenzen - das hier sind meine Themen, das erlaube ich mir zusätzlich als Bonbon und hier ist wirklich Schluss." Vielleicht schafft sie mit dieser Einstellung in Zukunft, was sie sich eigentlich schon am Anfang ihrer ersten Wahlperiode vorgenommen hatte: Die Hauptstadt abseits des Bundestages zu erleben. Doch dann waren die Sitzungstage meist zu lang, um abends auszugehen. Das soll anders werden: "Mindestens einmal pro Monat möchte ich mir einen Abend freinehmen, damit ich endlich etwas von Berlin sehe. Das habe ich mir fest vorgenommen."