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Deutsche wurden dreimal souverän

ÜBERWACHUNG Die Sonderrechte der drei westlichen Siegermächte sind bis heute immer wieder fortgeschrieben worden

25.11.2013
2023-08-30T12:24:08.7200Z
7 Min

Auf deutschem Boden gilt deutsches Recht." Mit diesen denkwürdigen Worten verabschiedete sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Sommer dieses Jahres in den Urlaub. Wochen später musste selbst sie bitter erfahren, wie wenig ausländische Geheimdienste von einem solchen Satz halten. Spätestens seit Beginn ihrer Kanzlerschaft wurde ihr Handy von den amerikanischen Freunden systematisch abgehört. Deutsches Recht verhinderte nicht, dass die Deutschen in einem bisher unvorstellbaren Ausmaß von ihren wichtigsten Partnern in der westlichen Wertegemeinschaft abgehört wurden. Während im Kanzleramt am Entwurf eines Anti-Spionage-Abkommens mit den USA und dem Vereinten Königreich gearbeitet wird, geht der Bau der neuen US-Überwachungszentrale in Wiesbaden-Erbenheim unvermindert weiter - alles nach deutschem Recht?

Die Antwort heißt Ja. An diesem Recht haben die drei westlichen Siegermächte unter Führung der USA entscheidend mit geschrieben. Die Geschichte der Überwachung in Deutschland ist ein entscheidender Bestandteil der Einbindung und Selbsteinbindung der Bundesrepublik in den Westen. Mit Ausbruch des Kalten Krieges wurde für die USA die dauerhafte Präsenz im Herzen Europas von zentraler geostrategischer Bedeutung, zur Sicherung der gewonnenen Vormachtstellung gegenüber dem sowjetischen Machtbereich und zur kontrollierten Einbindung Westdeutschlands in den Westen. Ein wichtiges Instrument dieser Politik wurde die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs in, durch und von Deutschland aus. Die Bundesrepublik wurde zum am meisten überwachten Land in Europa. Als Rechtsgrundlage diente zunächst das Recht der Sieger und Besatzer. Schon in den frühen 1950er Jahren drängten die drei Mächte darauf, deutsche Geheimdienste an den Überwachungsmaßnahmen der Besatzungsmächte zu beteiligen. Dazu sollte eine professionell arbeitende deutsche Organisation geschaffen werden, die in der Lage war, auf Dauer die alliierte Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs zu übernehmen. Bundesinnenminister Gerhard Schröder (CDU) weigerte sich, dafür die politische Verantwortung zu übernehmen, da ein solches Gesetz "auf breiteste Ablehnung" stoßen würde.

Mit leeren Händen Als Kanzler Konrad Adenauer (CDU) im Oktober 1954 nach Paris fuhr, um mit den Außenministern der Drei Mächte über die Ablösung des Besatzungsregimes zu verhandeln, kam er mit leeren Händen. Ein Gesetz, das die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs durch deutsche Behörden erlaubte, hatte er nicht dabei. Das bedeutete, dass mit Ende der Besatzungsherrschaft das in Artikel 10 Grundgesetz geregelte Grundrecht auf Unverletzlichkeit des Post- und Fernmeldegeheimnisses seine volle Rechtswirksamkeit entfaltete. Danach mussten mit Erlangung der Souveränität alle Überwachungsmaßnahmen eingestellt werden. Dazu waren die Besatzungsmächte nicht bereit. Adenauer entschied sich dazu, mit einem Trick das Grundgesetz auszuhebeln. So forderte er die drei Außenminister auf, ihm einen Brief zu schreiben. In diesem sollten sie erklären, dass sie sich das Recht auf Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs so lange vorbehalten würden, bis die Bundesregierung aufgrund eines deutschen Gesetzes ermächtigt sei, entsprechende Überwachungsmaßnahmen selbst durchführen zu können. Der neue Überwachungsvorbehalt sollte auf keinen Fall in den gemeinsam ausgehandelten Verträgen stehen, die der Ratifizierung durch den Deutschen Bundestag unterlagen. Damit verletzte der Kanzler ein zweites Mal die Verfassung, indem er das Mitwirkungsrecht des Bundestags umging.

Die Drei Mächte bekamen, was sie wollten. Der Bundestag hatte keine andere Wahl, als sich dem neuen Überwachungsvorbehalt der Alliierten zu unterwerfen und eines Tages ein deren Vorstellungen gemäßes deutsches Überwachungsgesetz zu schaffen. Mit der von Adenauer vorgeschlagenen Pariser Vorbehaltsregelung war eine dauerhafte Einwirkung der Alliierten auf eine deutsche Überwachungsgesetzgebung gesichert.

Fast 14 Jahre vergingen, ehe die erste Große Koalition die unpopulären Gesetze, das Notstands- und Überwachungsgesetz, über die parlamentarischen Hürden brachte. Eine fast 90-prozentige Mehrheit im Bundestag machte es möglich. Tiefe Einschnitte ins Grundgesetz waren nötig, um die Forderungen der Alliierten nach Fortsetzung aller Überwachungsmöglichkeiten zu erfüllen. Eine Änderung von Artikel 10 Grundgesetz sah vor, dass Überwachte nicht informiert werden mussten und der Rechtsweg zur Überprüfung solcher Maßnahmen ausgeschlossen war. Faktisch wurde damit die Gewaltenteilung aufgehoben. Die Kontrolle durch das Parlament wurde auf eine vierköpfige Kommission reduziert. Mit der Grundgesetzänderung und dem G 10-Gesetz von 1968 wurden der Vorrang des Staatsschutzes und der "Schutz der Sicherheit der alliierten Truppen" vor dem Grundrecht auf Unverletzlichkeit des Post- und Fernmeldegeheimnisses dauerhaft gesetzlich geregelt. Durch das G 10-Gesetz von 1968 war die Situation für die Alliierten keineswegs schlechter, sondern komfortabler geworden. Aus drei Gründen:

1. Mit dem G 10-Gesetz konnten westdeutsche Geheimdienste bei der Post- und Fernmeldeüberwachung zum ersten Mal umfassend tätig werden. In einer geheimen Verwaltungsvereinbarung zum G 10-Gesetz wurden sie verpflichtet, alle Erkenntnisse den westlichen Geheimdiensten zur Verfügung zu stellen.

2. Auch in Zukunft durften die Alliierten Überwachungsmaßnahmen durchführen. Dies geschah jetzt auf Antrag über die westdeutschen Geheimdienste. Zuständig für die Alliierten in Sachen Postüberwachung war der Verfassungsschutz, in Sachen Fernmeldeüberwachung der BND. Die Anträge wurden an die G 10-Kommission des Bundestages weitergeleitet und in der Regel anstandslos genehmigt.

3. Die alliierten Geheimdienste konnten aber auch in Zukunft eigenständig tätig werden. Wie Adenauer 1954 musste auch Außenminister Willy Brandt (SPD) 1968 in einer Zusatznote zum G 10-Gesetz das Selbstverteidigungsrecht der alliierten Truppen in der Bundesrepublik als völkerrechtlich sanktioniertes und damit als Teil des deutschen Rechts anerkennen und bestätigen. Danach ist jeder Militärbefehlshaber in der Bundesrepublik ermächtigt, "im Falle einer unmittelbaren Bedrohung seiner Streitkräfte die angemessenen Schutzmaßnahmen" zu ergreifen.

Mit dieser Vollmacht für die Oberkommandierenden der Truppen waren alle "Schutzmaßnahmen" von der präventiven Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs über die unmittelbare geheimdienstliche Tätigkeit bis zum Gebrauch von "Waffengewalt" abgedeckt. Dies bedeutete: Solange es auf deutschem Boden alliierte Truppen, militärische Standorte und Einrichtungen gibt, wird es auf deutschem Boden und von deutschem Boden aus alliierte, insbesondere amerikanische Überwachungsmaßnahmen geben.

Als Erbmasse eingebracht Die Bedeutung des Jahres 1990 für die Geschichte der Überwachung in der Bundesrepublik ist schnell erklärt. Alles, was in 40 Jahren Bundesrepublik an deutsch-alliierten Verträgen und Vereinbarungen, deutschen Gesetzen, Regelungen und Erfahrungen zum Aufbau eines im Geheimen operierenden Überwachungsstaates angefallen war, wurde als Erbmasse in die deutsch-deutsche Vereinigung eingebracht. Die Forderung der damaligen oppositionellen SPD an die Regierung Kohl/Genscher, dafür zu sorgen, dass mit der Herstellung der Einheit Deutschlands sämtliche Überwachungen des Post- und Fernmeldeverkehrs in der Bundesrepublik und nicht nur die der Sowjetunion, sondern auch die der USA eingestellt würden, wurde ebenso wenig beachtet wie die Forderung nach Überprüfung und gegebenenfalls Kündigung entsprechender Verträge und Vereinbarungen. Helmut Schäfer (FDP), Staatsminister im Auswärtigen Amt, bestätigte, dass die Aktivitäten der als militärische Einheiten organisierten US-Geheimdienste auf dem Aufenthaltsvertrag vom 23.10.1954 und den Zusatzvereinbarungen zum Nato-Truppenstatut von 1959 basierten. "Für die Anwendung der genannten Verträge auf die in der Bundesrepublik Deutschland stationierten Streitkräfte der Verbündeten", so der Staatsminister, "kommt es allerdings nicht darauf an, ob und in welchem Grad sie in die militärische Befehlsstruktur der Nato eingebettet sind."

Hier lohnt es sich, noch einmal etwas genauer hinzuschauen. Am 12. September 1990 wurde in Moskau von den beiden deutschen Staaten und den vier Siegermächten der Zwei-plus-Vier-Vertrag unterzeichnet, der dem vereinten Deutschland "volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten" attestierte. Jetzt wurden die Deutschen schon zum dritten Mal souverän. 1955 hatte bereits Adenauer den 5. Mai zum "Tag der Souveränität" und die Bundesrepublik zum freien und unabhängigen Staat erklärt. Bei Willy Brandt klang es 1968 ähnlich: "Wir ersetzen überlebtes Besatzungsrecht durch Regelungen, wie sie unter gleichberechtigten Vertragspartnern notwendig und üblich sind." Lag es auch 1990 in der Logik der Westeinbindung der Bundesrepublik, den Souveränitätsgewinn zu betonen und neu bestätigte Beschränkungen zu verschweigen? Zwei Wochen nach Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrags ließ sich die Bundesregierung unter Helmut Kohl (CDU) und Hans-Dietrich Genscher (FDP) per Gesetz ermächtigen, durch "Rechtsverordnung" wesentliche Elemente des Besatzungsrechts in Kraft zu lassen. Dies betraf vor allem die weitere Stationierung alliierter Truppen in der Bundesrepublik und in Berlin sowie die Sonderrechte zur Selbstverteidigung und zum Schutz der Sicherheit der alliierten Truppen. Damit behielten die Aktivitäten der US-Geheimdienste auch im vereinten Deutschland eine rechtsverbindliche Grundlage.

Alliertes Vertragsrecht Durch deutsch-alliierten Notenaustausch vom 25. September blieben in Kraft: 1. der Aufenthaltsvertrag (Stationierung ausländischer Truppen), 2. der Überleitungsvertrag (alle gesetzgeberischen, gerichtlichen oder Verwaltungsmaßnahmen der Besatzungsbehörden blieben nach deutschem Recht in Kraft.), 3. Das Zusatzabkommen zum Nato-Truppenstatut mit all den Bestimmungen zu engster geheimdienstliche Zusammenarbeit, alliierten Überwachungsmaßnahmen zum Schutz der Sicherheit, Austausch aller Informationen inklusive personenbezogener Daten, strikte Geheimhaltung.

Generell gilt für die alliierten Militärbasen im vereinten Deutschland, was auch vorher galt: "Eine Truppe und ein ziviles Gefolge können innerhalb der ihnen zur ausschließlichen Benutzung überlassenen Liegenschaften die zur befriedigenden Erfüllung ihrer Verteidigungspflichten erforderlichen Maßnahmen tref-fen." (Zusatzvertrag, Art. 53, Abs.1) Deutsches Recht gilt nur da, wo nicht die Sicherheit, die Organisation und die Strafverfolgung nach alliiertem Recht berührt wurden. In der Bundesrepublik Deutschland gilt somit auch deutsch-alliiertes Vertragsrecht und auf den Militärbasen auch amerikanisches Recht, vor allem wenn es um den Schutz der Sicherheit der eigenen Truppe geht, womit seit über 60 Jahren die geheimdienstlichen Aktivitäten etwa der USA wieder und wieder verschleiert und gerechtfertigt werden.

Schon bei den Beratungen des G 10-Gesetzes 1968 brachte der Parlamentarische Geschäftsführer der oppositionellen FDP-Bundestagsfraktion, Hans-Dietrich Genscher, das Problem auf den Punkt und fragte: "Wollen Sie also etwa einem Verlangen der Alliierten in Zukunft Rechnung tragen, wonach ein bestimmter Bürger unseres Landes überwacht werden soll, weil irgendeine alliierte Dienststelle der Meinung ist, die Interessen ihrer Truppen seien verletzt? Meine Damen und Herren, dazu sagen wir entschieden Nein; denn das wären die Vorbehaltsrechte in neuer Form." Heute haben wir das Problem, dass alle Bundesregierungen diesen Zustand erkannt, aber hingenommen und mit dem Hinweis auf die Verpflichtung zu strikter Geheimhaltung öffentlich immer wieder beschwiegen haben.