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Pandämonium des Grauens

GESCHICHTE Piskorski schildert die Vertreibungen in Europa

23.12.2013
2023-08-30T12:24:09.7200Z
2 Min

Das 20. Jahrhundert ist ein Jahrhundert der Vertreibungen. Bis zu 80 Millionen Menschen seien Opfer der neuzeitlichen Menschenverschiebungen in Europa geworden, schreibt der polnische Historiker Jan Piskorski in seiner Geschichte der europäischen Vertreibungen ("Die Verjagten"). Ob zeitweise durch die Kriegsfronten oder dauerhaft durch staatliche Politik: Am Anfang dieser Entwicklungen steht der moderne Nationalstaat mit dem Ideal der national, kulturell oder religiös einheitlichen Gemeinschaft. Das Buch ist ein ehrgeiziges Projekt, denn es beschreibt Vorgänge in unterschiedlichen Regionen mit verschiedenen Ursachen und Rahmenbedingungen.

Piskorski hat vor allem das Schicksal seines im 20. Jahrhundert schwer geprüften Volkes im Blick. Der deutsche und russische Einmarsch 1939 und die Unterdrückungspolitik durch Hitler wie Stalin sind in Polen bis heute tief wirkende Traumata. Dabei scheut sich der Stettiner nicht, auch unbequeme Wahrheiten über sein Land zu nennen. Der Schwerpunkt des Buches liegt auf dem mittel- und osteuropäischen Raum zwischen 1939 und 1950. Damit steht auch Deutschland im Zentrum, das mit der Flucht und Vertreibung von bis zu 15 Millionen Deutschen zahlenmäßig am meisten von Zwangstransfers betroffen war.

Massenmorde

Die Geschichte der Verjagten zeichnet Piskorski als düsteres Panorama. Los ging es auf dem Balkan. Dort gab es beim Werden junger Nationalstaaten infolge des sich zurückziehenden Osmanischen Reichs ethnische Unduldsamkeiten und Fluchtbewegungen. Hitler, so Piskorski, habe die Vorgänge auf dem Balkan und im Osmanischen Reich - auch den Massenmord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg - genau registriert und daraus geschlossen, man könne "an den Rändern Europas Menschen beliebig umsiedeln und ermorden, da die Welt dort nicht hinsieht und in der Regel schnell vergisst". Im Kontext des Zweiten Weltkriegs wird das im Osten Europas im Bannkreis Hitlers und Stalins blutige Realität - mit massenhaften Deportationen von Deutschen, Polen, Kaukasusvölkern, Balten, Ukrainern und anderen sowie Massenmorden wie an den Juden im Holocaust.

Lebendig wird Sikorskis Pandämonium des Grauens durch Einschübe individueller Schicksale. Trotz der Beschreibung millionenfachen Unrechts kommt Piskorski nie moralisierend daher. Mit der Nüchternheit des Historikers schreibt er, in der Geschichte könnten "außergewöhnliche Situationen eintreten, die außergewöhnliche Maßnahmen erfordern". Jede Generation müsse sich aber im klaren sein, "dass spätere Generationen sie zur Rechenschaft ziehen werden".

Jan Piskorski:

Die Verjagten. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts

Siedler Verlag, München 2013; 432 S., 24,99 €