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Geist im Krieg

1914/18 Kulturgeschichte einer Weltkatastrophe

23.12.2013
2023-08-30T12:24:09.7200Z
2 Min

Angehörige der heute mittleren Generation mögen noch von ihren Großeltern Selbsterlebtes aus der Zeit des Ersten Weltkriegs erzählt bekommen haben, dessen Ausbruch sich 2014 zum 100. Mal jährt. Gar so lange scheint diese Zeit also nicht zurückzuliegen. Auch für Ernst Piper, Jahrgang 1952, ist der Erste Weltkrieg "ein Ereignis der Zeitgeschichte", wie der Historiker im Vorwort seines Buchs "Nacht über Europa" unter Verweis darauf schreibt, dass seine Großväter in diesen Krieg involviert waren. Dabei breitet diese "Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs" ein "geistiges Panorama" aus, das eine doch fremd anmutende Welt aufzeigt: Die Kriegsbegeisterung vom August 1914 beispielsweise, der sich auch viele Künstler und Wissenschaftler nicht entziehen konnten, bleibt nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts kaum nachvollziehbar.

Beeindruckende Detailfülle

Der Impressionist Max Liebermann etwa, Wilhelm II. eigentlich "in inniger Feindschaft verbunden", unterschrieb eine Lithographie mit dem Kaiser-Zitat "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche". Der Schriftsteller, Mäzen und Diplomat Harry Graf Kessler hatte in seinem Adressbuch "12.000 Menschen aus nahezu allen Ländern Europas verzeichnet", aber "nun keine Bedenken, wenn unschuldige belgische Bürger brutalen deutschen Vergeltungsaktionen zum Opfer fielen".

Piper schildert nicht nur die "geistige Mobilmachung" der Nationen. Er spürt auch den politischen und militärischen Entwicklungslinien dieses ersten totalen Krieges und seiner Wirkung auf das Geistesleben eines Europas nach, dessen kulturelle Netzwerke ebenso zerrissen, wie sich die Arbeiterbewegung spaltete. Kenntnissreich schildert er Kriegsschicksale zahlreicher Künstler und Intellektueller, von Bellizisten wie Pazifisten, sowie die Lage der Juden, deren patriotische Haltung wüstem Antisemitismus begegnete. Ein nicht nur dank seiner Detailfülle beeindruckendes Buch, das sich indes bisweilen nicht ohne Beklemmung liest angesichts der geschilderten nationalistisch-rassistischen Borniertheiten und ihren Folgen noch über 1918 hinaus. Um so ermutigender wirkt da Pipers Hinweis, dass nach den drei Kriegen zwischen Deutschland und Frankreich seit 1870 ein vierter undenkbar sei und beide Nationen heute "das Herz des europäischen Einigungsprozesses" sind: "Das sollte auch den größten Fortschrittsskeptiker mit einer gewissen Zuversicht erfüllen."

Ernst Piper: Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs

Propyläen, Berlin 2013; 592 S. 26,99 €