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Kurz notiert

30.06.2014
2023-08-30T12:26:16.7200Z
4 Min

Investigative Recherche war gestern: Dank der NSU-Untersuchungsausschüsse des Bundestages und diverser Landtage können Journalisten Artikel und Bücher veröffentlichen, die auf deren Nachforschungen beruhen. Die Quellen werden frei Haus geliefert und bestehen aus den mehrere tausend Seiten umfassenden Protokollen der Ausschüsse. Das darüber hinaus fehlende Material steuern Gerichtsakten bei.

Der Fall der "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) belegt eindrucksvoll nicht nur das Versagen der Strafverfolgungsorgane, sondern auch des investigativen Journalismus. Niemand kam auf die Idee, hinter der zehn Jahre lang durch Deutschland ziehenden Mörderbande, unter deren Opfern sich bis auf eine Ausnahme ausschließlich "Ausländer" befanden, rechtsradikale Motive zu vermuten und darüber zu schreiben. Das grausame Treiben der NSU-Zelle kam nur durch Zufall ans Licht.

Immerhin haben jetzt die beiden erfahrenen Journalisten Stefan Aust und Dirk Labs die umfangreichen Dokumente ausgewertet und ein Protokoll der NSU-Verbrechen veröffentlicht. Dem Leser ist dieses gut strukturierte Buch zu empfehlen - nicht weil es alle Hintergründe und komplexen Zusammenhänge aufdecken und verbinden würde, sondern weil es auf Untersuchungslücken hinweist. Man vermag es kaum glauben, aber noch längst sind nicht alle Details geklärt, so dass Spielraum für Verschwörungstheorien bleibt: Handelt es sich bei der massenhaften methodischen Aktenvernichtung beim Verfassungsschutz tatsächlich nur um "Dummheit" oder war es ein bewusster Akt der Vertuschung? Wieso war die gesamte Spitze der Sicherheitsbehörden in den 1990er Jahren so tief davon überzeugt, dass es keine "braune RAF" in Deutschland gibt?

Das Fazit der Autoren lautet: Der Rechtsstaat hat durch seinen halbherzigen Kampf gegen den Rechtsextremismus schweren Schaden genommen. "Heimatschutz" von Aust und Labs ist ein Standardwerk, für künftige Leser ein Zeugnis der Zeitgeschichte.

Stefan Aust, Dirk Labs:

Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU.

Pantheon Verlag, München 2014, 864 S., 22,99 €

"In Russland wird alles oben entschieden -im Kreml", sagte der bekannte russische Schriftsteller Vladimir Sorokin vor fünf Jahren in einem Interview mit "Das Parlament". Deshalb sei es so wichtig, wer dort herrsche. Der Kreml sei ein Ort, "der die Menschen, die dorthin geraten sind, verändert, ja mutiert. Und sie mutieren nicht zum Besseren". Für Sorokin verkörpert der Kreml die Mystik der russischen Staatsgewalt. Russland war jahrhundertelang ein zentralistischer Staat mit dem Kreml als Zentrum. Dessen symbolträchtige Rolle in der russisch-sowjetischen Geschichte hat die britische Historikerin Catherine Merridale in ihrem empfehlenswerten Buch jetzt meisterhaft entziffert.

Sie ist vom Kreml fasziniert und bezeichnet ihn als Russlands Klagemauer. Sie erzählt eine "neue" Geschichte der berühmtesten Festung der Welt, in deren Mittelpunkt seine Herrscher und Bewohner stehen. Merridale tut dies mit emotionalem und sachlichem Blick zugleich. Im Zentrum ihrer Betrachtungen stehen die Philosophie und Ikonographie der Kreml-Herrscher.

Die Autorin, die sich mit ihren Büchern über die stalinistische Sowjetunion und die Rote Armee im Zweiten Weltkrieg einen Namen machte, lässt Krönungen, Paraden und andere Rituale im Kreml und auf dem Roten Platz vor dem Auge des Lesers lebendig werden. Sie entzaubert die Glorifizierung des Staates, die gegenwärtigen Propagandaveranstaltungen, mit einer Mischung aus christlich-orthodoxen und autoritär-kommunistischen Elementen, die die Kontinuität und Autorität der Macht im heutigen Russland bestätigen sollen.

"Das Hauen und Stechen der Realpolitik, die Kompromisse, die Korruption und die Händel werden verborgen, weil alles auf Mythen beruht", schreibt Merridale über die Lage im Lande. "Wie viele Regime der Vergangenheit sucht auch die heutige russische Regierung Schutz hinter den ikonischen Mauern und der spiegelglatten Perfektion des Kreml". Nach Meinung der Historikerin lässt dies für die Zukunft Russlands nichts Gutes erwarten.

Catherine Merridale:

Der Kreml. Eine neue Ge- schichte Russlands.

S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2014, 624 S., 26,99 €