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"Die haben doch nicht alle Tassen im Schrank"

PETRA BLÄSS 1990 wurde sie überraschend Vorsitzende der Wahlkommission bei der Volkskammer-Wahl. Für deren Organisation blieb knapp ein Monat Zeit

28.07.2014
2023-08-30T12:26:18.7200Z
3 Min

Als 25-Jährige der Wahlkommission bei den Volksammer-Wahlen 1990 vorzusitzen, war schon eine verrückte Sache. Verrückt - wie die ganze Zeit damals. Laut Wahlgesetz konnte jede der an der Wahl teilnehmenden 25 Parteien oder Bewegungen zwei Personen in die Zentrale Wahlkommission entsenden. Ich war damals Mitglied beim frisch gegründeten Unabhängigen Frauenverband (UFV), der sich in einer Koalition mit der Grünen Partei entschieden hatte, an der Wahl teilzunehmen. Auch er hatte also zwei Mitglieder für die Wahlkommission zu nominieren. Eine 35-jährige Juristin wurde auf einem DDR-weiten UFV-Treffen gewählt, die zweite Frau sollte der Berliner Verband bestimmen.

Der Telefonanruf

Eines Abends klingelte mein Telefon - ein Anruf aus dem UFV-Büro im Haus der Demokratie: "Petra, würdest du in die Zentrale Wahlkommission gehen?" Meine erste Reaktion: Die sind doch verrückt! Aber das waren auch keine normalen Zeiten. Und es traf bei mir auf ein tiefes Bedürfnis, mich aktiv einzubringen und mit zu verändern. Ich habe dann gefragt, was ich da machen muss. "Zu den Sitzungen gehen und eventuell auch ein paar Presseanfragen beantworten", hieß es. Da habe ich zugesagt.

Als dann das Telegramm vom DDR-Innenministerium mit der offiziellen Einladung zur konstituierenden Sitzung der Wahlkommission kam, zuckte ich zusammen. Am 21.Februar bestätigte die Volkskammer die Kandidaten und Kandidatinnen der Wahlkommission. Die Live-Übertragung dieser Sitzung hatte ich zuhause in meiner Studentenbude auf meinem alten Schwarz-Weiß-Fernseher verfolgt. Die Namensliste wurde eingeblendet. Als ich "Petra Bläss" las, wurde mir schon etwas mulmig.

Bei der ersten Sitzung der Wahlkommission im ehemaligen Haus der Ministerien - dem heutigen Finanzministerium - saßen 50 Mitglieder im Saal - ich war wohl die Jüngste. Erster Punkt war laut Tagesordnung die Wahl "des Vorsitzenden der Wahlkommission" - natürlich in männlicher Sprache formuliert. Das weckte sofort meinen Widerspruchsgeist. Und da war für mich schon mal klar: Ich wähle eine Frau. Zur Wahl standen zwei Männer von CDU und FDJ sowie eine Frau von der Bauernpartei, die ich dann auch gewählt habe. Schließlich wurde gefragt, ob es weitere Vorschläge gibt. Woraufhin sich ein mir unbekannter Herr, Frank Unger von der SPD, meldete und sagte: "Wir von den Sozialdemokraten schlagen Frau Petra Bläss vom Unabhängigen Frauenverband vor." Meine erste Reaktion: Die haben doch nicht alle Tassen im Schrank! Ich blieb aber ruhig, weil ich gedacht habe: Die wählen dich sowieso nicht! Doch gleichzeitig schoss mir durch den Kopf: Ich sitze hier stellvertretend für all die vielen tollen Frauen wie Ina Merkel, Tatjana Böhm, Uta Röth oder Wally Schmidt, die am Runden Tisch für uns gekämpft haben. Dann kam die geheime Wahl. Bei der Auszählung habe ich sofort gemerkt, dass sich hinter dem Namen Bläss die Striche mehrten: Ich wurde im ersten Wahlgang als Vorsitzende gewählt. Im Rückblick ist das recht einfach zu erklären: Ich war die einzige Kandidatin einer "neuen" Organisation, die bei der Volkskammerwahl in der Überzahl waren. Und dass der Vorsitz nicht aus den Reihen der etablierten Parteien besetzt wurde, sollte ein Signal sein.

Kein Zögern

Als Volkskammerpräsident Günther Maleuda schließlich fragte: "Nehmen Sie die Wahl an?", habe ich nicht gezögert. Ich dachte in diesem Moment nur noch an unsere Energie und Entschlossenheit auf der Gründungsversammlung des UFV und unser Motto "Ohne Frauen ist kein Staat zu machen". Kneifen ging also nicht. Dann kam auch gleich das ZDF mit der Frage "Wie fühlen sie sich als Nachfolgerin von Egon Krenz?" auf mich zu. Ich wurde in der Folge zum Presseliebling, weil ich frei von der Leber weg redete.

Wir haben es als Wahlkommission mit Unterstützung unseres Sekretariats und des Statistischen Amtes der DDR in knapp einem Monat geschafft, die ersten freien Wahlen zu organisieren. Alle Beteiligten hatten ein gemeinsames Ziel, und es gab keine Machtspielchen. Wichtig war, dass alles transparent war. Die Kooperation mit den Medien war die Basis, um die Leute zu erreichen und zu mobilisieren. Und ohne die Arbeit der Wahlkommissionen in den 15 Bezirken und Tausender Freiwilliger in den Wahlvorständen wäre das nicht gelungen.

Als die ersten Wahlergebnisse am 18. März eintrafen, kippte die Stimmung in der Zentralen Wahlkommission. Die Machtverhältnisse waren nun geklärt. Für mich war das Wahlergebnis ein Schock. Geblieben aber ist die positive Erfahrung eines zielorientierten parteiübergreifenden Miteinanders, die für meine weitere politische Arbeit prägend war.