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BUNDESWEHR : Werkeln an der Dauerbaustelle

Die Probleme bei der Beschaffung von Rüstungsgütern waren lange bekannt. Gelöst wurden sie jedoch nie

13.10.2014
2023-08-30T12:26:21.7200Z
6 Min

Im November 1962 blickte Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) in einen „Abgrund von Landesverrat“. Das Magazin der „Spiegel“ hatte unter dem Titel „Bedingt abwehrbereit“ der Nato und der Bundeswehr attestiert, einen sowjetischen Großangriff auf Westeuropa nicht abwehren zu können. Die Bundesanwaltschaft ermittelte gegen das Magazin, ließ die Redaktionsräume in Hamburg durchsuchen und verhaftete mehrere „Spiegel“-Redakteure, unter ihnen Chefredakteur und Herausgeber Rudolf Augstein. Der Rest ist Geschichte: Die „Spiegel-Affäre“ löste eine handfeste Regierungskrise aus, an deren Ende Franz Josef Strauß (CSU) seinen Hut als Verteidigungsminister nehmen musste.

Ein halbes Jahrhundert später sind es nicht investigative Journalisten, die die Verteidigungsbereitschaft der deutschen Streitkräfte in Zweifel ziehen. Diesmal ist es die deutsche Verteidigungsministerin höchstpersönlich, die einräumen muss, dass Deutschland seine Verpflichtungen gegenüber der Nato derzeit nicht umfänglich erfüllen kann.

Mängelliste Ausgelöst hatte die Diskussion eine dem Verteidigungsausschuss des Bundestages vorgelegte Übersicht von Generalinspekteur Volker Wieker über das einsatzbereite beziehungsweise eben nicht einsatzbereite Großgerät der Bundeswehr. So manchem Abgeordneten verschlug es die Sprache: Von 180 Transportpanzern vom Typ „Boxer“ meldete Wieker gerade mal 70 als einsatzbereit. Und das, obwohl die Truppe das Fahrzeug erst seit Sommer 2011 im Einsatz hat. Noch dunklere Wolken ziehen allerdings im wahrsten Sinne des Wortes am Himmel auf: Von den theoretisch 109 verfügbaren nagelneuen Kampfflugzeugen vom Typ „Eurofighter“ seien nur 42 einsatzbereit. Auch bei der Hubschrauber-Flotte müssen die meisten Maschinen am Boden bleiben. Nur acht der neuen Transporthubschrauber „NH 90“ und zehn der 31 ebenfalls neuen Kampfhubschrauber „Tiger“ könnten derzeit in den Einsatz geschickt werden.

Begleitet wurde Wiekers Mängelliste von Berichten über liegengebliebene „Transall“-Transportmaschinen auf Gran Canaria und Bulgarien auf ihren Flügen nach Westafrika und den Nord-Irak. Dass die betagten, aber als zuverlässig geltenden „Transall“-Maschinen, die seit Ende der 1960er Jahre im Einsatz sind, inzwischen sehr reparaturanfällig sind, verwundert niemanden. Die massiven technischen Probleme bei Neuanschaffungen, etwa beim „Eurofighter“, lassen jedoch hellhörig werden. So musste der Hersteller (EADS) erst kürzlich „Herstellungsfehler an einer großen Zahl von Bohrungen“ im Rumpf des Kampfjets eingestehen. Die weitere Auslieferung wurde vorerst gestoppt.

Der Befund, dass die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr gefährdet ist, ist wahrlich nicht neu. Sowohl der Wehrbeauftragte der Bundestages, Hellmut Königshaus, als auch sein Amtsvorgänger Reinhold Robbe warnten und warnen seit Jahren wortgleich, dass die Truppe „die Grenze der Belastbarkeit erreicht“ habe. Exemplarisch genannt wurde unter anderem auch immer die angespannte Lage beim Lufttransport. Minister wie auch Parlamentarier der jeweiligen Regierungskoalition verwiesen dann darauf, dass der Jahresbericht des Wehrbeauftragten „naturgemäß ein Mängelbericht“ sei. Doch die Belastungsgrenze ist nun offenbar überschritten.

Mit ein Grund dafür ist, dass große Teile der Ausrüstung und des Geräts veraltet sind und das neue Gerät die Truppe mit erheblichen Verspätungen erreicht. Der Militärtransporter „A 400M“ hat schon jetzt eine Lieferverspätung von vier Jahren. Und die für November angekündigte Auslieferung der ersten Maschinen könnte sich erneut verzögern.

Zu spät und zu teuer Das Grundproblem bei der Beschaffung von Fahrzeugen, Panzern, Schiffen, Flugzeugen und Hubschraubern lässt sich auf eine kurze und prägnante Formel bringen: Sie kommen zu spät, werden teurer als geplant und halten nicht das, was versprochen wurde. In der Folge müssen die Soldaten zusehen, dass sie das alte Material durch Sonderschichten bei Wartung und Instandhaltung am Laufen halten. Dafür wiederum fehlen Ersatzteile, weil sie schlichtweg nicht mehr lieferbar sind und keine größeren Vorräte angelegt wurden. Einen Ausweg bietet das berüchtigte „Kannibalisieren“, sprich die Ersatzteile werden aus anderen Fahrzeugen ausgebaut. Die von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) beim Wirtschaftsprüfungsunternehmen KPMG in Auftrag gegebene Studie zeigt anhand von neun großen Rüstungsprojekten, wo die Ursachen für die Probleme im Beschaffungswesen liegen: „Dem Bund gelingt es häufig nicht, seine Kosten- Termin- und Leistungsziele gegenüber dem Auftragnehmer durchzusetzen. Sie werden häufig bereits bei Vertragsschluss nicht ausreichend verankert“, heißt es da im besten Unternehmensberater-Deutsch. So seien beispielsweise Gewährleistungs- und Haftungsklauseln „unpräzise formuliert“. Zudem würden die Projekte nicht kontinuierlich durch erfahrene Juristen begleitet. Die Folge: Liefert die Industrie nicht wie bestellt, dann kann sie juristisch auch kaum zur Verantwortung gezogen werden.

Grundsätzlich gilt nach Ansicht der KPMG-Prüfer aber, dass bereits die Grundannahmen bei Beginn eines Rüstungsprojektes in zeitlicher und finanzieller Hinsicht zu optimistisch eingeschätzt werden. Für die unkalkulierbaren Risiken würden „keine ausreichenden Budgets“ berücksichtigt.

Die hochkomplexen Beschaffungsprojekte, so legen die Prüfer dar, durchlaufen zudem eine ebenso hochkomplexe Bürokratie. Beteiligt an den Projekten sind unter anderem das Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr mit Sitz in Koblenz, das Planungsamt der Bundeswehr in Berlin-Köpenick und die Abteilung für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung im Verteidigungsministerium an den Dienstsitzen in Bonn und Berlin. Doch die Kommunikation zwischen all den beteiligten und räumlich getrennten Schreibtischen läuft nicht rund.

Der Bürokratie gegenüber steht allerdings eine Rüstungsindustrie, die offenbar die bessere Verhandlungsposition hat. „Oftmals verfügen nur sehr wenige Industriepartner über das erforderliche Know-how und die notwendige Erfahrungen“ für die Rüstungsaufträge, heißt es in der KPMG-Studie. „Vor allem in Fällen, in denen der Bund neue Produkte entwickeln möchte, kann er die erforderlichen Entwicklungs- und Realisierungsleistungen daher regelmäßig nicht im Wettbewerb beschaffen.“

Kritiker bemängeln, dass der Einfluss der Rüstungsindustrie auf die Beschaffungspolitik prinzipiell zu groß sei. Deren Vertreter wären direkt eingebunden bei der Formulierung der Anforderungen an neue Waffensysteme.

Als Ministerin von der Leyen in der vergangenen Woche unverblümt zu verstehen gab, dass die Bundeswehr ihr Großgerät in bestimmten Bereichen nicht zwangsläufig auf dem nationalen Rüstungsmarkt beschaffen müsse, reagierte die Industrie gereizt. In einer gemeinsamen Stellungnahme erklärten die Bundesverbände der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, der Deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie und der Deutschen Industrie, die KPMG-Studie fordere ein „klares Bekenntnis der politisch Verantwortlichen zu Rüstungsprojekten. Dies schließt aus Sicht der Industrie auch das Bekenntnis zu den in Deutschland ansässigen Unternehmen und deren vorhandenen Kapazitäten zur Entwicklung und Fertigung dieser Güter mit ein.“ Gerät die Rüstungsindustrie unter Druck, wie zuletzt in der Auseinandersetzung mit Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) über die Rüstungsexportrichtlinien, dann verweist sie gerne auf den gefährdeten Technologiestandort Deutschland und gefährdete Arbeitsplätze.

Die KPMG-Studie listet rund 140 Risiken auf, von denen die untersuchten neun Rüstungsprojekte betroffen sind. Und sie gibt rund 180 Handlungsempfehlungen, wie die Probleme des Beschaffungswesens gelöst werden könnten. Für Ministerin von der Leyen einen weitere Mammutaufgabe auf der Großbaustelle Bundeswehr.

Neu sind die benannten Probleme allerdings alle nicht. Schon die von Kanzler Gerhard Schröder (SPD) berufene Kommission „Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr“ unter dem Vorsitz des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker kam in ihrem im Mai 2000 vorgelegten Bericht zu der Einschätzung, dass sich die Kosten bei den Rüstungsvorhaben „proportional zu den Entwicklungs- und Beschaffungszeiten erhöhen. Weitere Kostentreiber sind unausgereifte Technologien, ein starres Haushaltsrecht und das spätere Nachschieben von Forderungen“ an die Leistungsfähigkeit des Materials.

Zehn Jahre später, im April 2010, berief Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) die Bundeswehrstruk-turkommission, diesmal unter dem Vorsitz von Frank-Jürgen Weise, dem Leiter der Bundesagentur für Arbeit. Nach einem halben Jahr kam das Gremium zu dem identischen Ergebnis: „Die Streitkräfte“, so war zu lesen, „erhalten ihre geforderte Ausrüstung zumeist weder im erforderlichen Zeit- noch im geplanten Kostenrahmen. Über die langen Projektlaufzeiten – nicht selten über zehn bis 30 Jahre – ändern sich die politischen Interessenlagen, der militärische Bedarf und damit die Forderungen. Die Truppe bekommt am Ende nicht mehr das, was zur Erfüllung ihres Auftrages erforderlich ist.“

Untersuchungsausschuss Als Thomas de Maizière (CDU) das Verteidigungsministerium im März 2011 von zu Guttenberg übernahm, musste er feststellen, dass das Haus bei weitem nicht so „gut bestellt“ war, wie sein Amtsvorgänger behauptet hatte. De Maizière sah sich gezwungen, an der Streitkräftereform nachzubessern und geriet bereits im Sommer 2013 wegen des gescheiterten Rüstungsprojekts „Euro Hawk“ in arge Bedrängnis. Auf Druck von SPD, Grünen und Linkspartei setzte der Bundestag einen Untersuchungsausschuss ein. Die Zeugenbefragungen des Ausschusses offenbarten die bekannte Misere: zu optimistische Planungen, schlechte Verträge, schlechtes Projektmanagement.

Ursula von der Leyen war entsprechend vorgewarnt, als sie im Dezember vergangenen Jahres das Verteidigungsministerium übernahm. Umgehend forderte die neue Hausherrin Statusberichte über die 15 größten und wichtigsten Rüstungsprojekte an. Als ihr die Kostensteigerungen und Lieferverzögerungen nicht plausibel erklärt werden konnten, entließ sie darauf hin Staatssekretär Stéphane Beemelmans und den Abteilungsleiter Rüstung, Detlef Selhausen. Der war genau wie Beemelmans schon während des „Euro Hawk“-Untersuchungsausschusses in die Kritik geraten. In der Folge beauftragte von der Leyen KPMG mit der Prüfung der Rüstungsvorhaben. Das Ergebnis: Die Probleme sind noch immer die alten.