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Jahresbericht I : Aufbau Ost ist noch längst nicht abgeschlossen

Regierung wirbt um Solidarität auch nach 2019. Opposition spricht von »gravierenden Fehlern«

13.10.2014
2023-08-30T12:26:21.7200Z
4 Min

„Diese Mauer ist nicht von alleine umgefallen.“ Sie sei von den Bürgern „eingerissen“ worden. So blickte die Parlamentarische Staatssekretärin Iris Gleicke (SPD) aus Thüringen zurück auf die friedliche Revolution vor 25 Jahren. Als Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Länder legte sie den „Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit 2014“ (18/2665) vor, über den der Bundestag am Freitag debattierte.

Ist das Glas halb voll oder halb leer:? Die Bewertung des Aufbaus Ost fiel unterschiedlich aus. Näher beieinander lagen die Redner bei der Einordnung des Geschehens vor einem Vierteljahrhundert, dem der Bericht denn auch ein eigenes Kapitel widmet. Und die aktuelle Diskussion erreichte auch den Plenarsaal: Die DDR ein Unrechtsstaat? Die Erörterung dieser Frage nannte Gleicke „schlicht und einfach banal“. Es habe sich um eine „üble und spießige Diktatur“ gehandelt: „Und das ist nun einmal ein Unrechtsstaat“. Dies sage freilich nur etwas „über das System aus, nicht über die Menschen“.

Die Transformation in der DDR ist nach Gleickes Einschätzung „keine reine Erfolgsgeschichte“. Obwohl bei der Verkehrsinfrastruktur, bei der Beseitigung der Umweltschäden oder auch der Sanierung der Innenstädte viel erreicht worden sei, so gelte doch: „Der Aufbau Ost ist noch längst nicht abgeschlossen.“ Solidarität sei auch nach Auslaufen des Solidarpakts 2019 nötig, blickte sie auf die anstehende Neuordnung des Bund-Länder-Finanzausgleichs. Das gelte „natürlich auch für strukturschwache westdeutsche Regionen“.

Attacke gegen Linke Dietmar Bartsch (Fraktion Die Linke) schickte voraus: Den Oppositionellen in der DDR gebühre „Dank und dauerhafte Anerkennung“. In den 25 Jahren seit der friedlichen Revolution sei tatsächlich „viel erreicht“ worden, blickte er zurück. Er könne verstehen, dass zwei Drittel der Ostdeutschen mit der Einheit zufrieden seien. Allerdings sprach er auch von „gravierenden Fehlern“. So habe der Westen aus „ideologischer Borniertheit“ nicht auf „das Potenzial der Menschen“ im Osten gesetzt: „Der Aufbau Ost als Nachbau West ist gescheitert.“ Er trug vor, dass in der Einkommensstatistik die neuen Länder die letzten sechs Plätze belegten. Nach 25 Jahren müsse „endlich Gleichheit“ bei den Lebensverhältnissen hergestellt werden, meinte er mit Verweis auf die Verhandlungen zum Finanzausgleich.

Mark Hauptmann (CDU) wehrte sich gegen den „zynischen Versuch der Geschichtsverkleisterung“. Ein Staat ohne freie Wahlen, der die eigenen Bürger eingesperrt und Kinder zwangsweise in Heime geschickt habe, im dem es politische Häftlinge und die Gleichschaltung der Parteien gegeben habe, der „war, ist und bleibt ein Unrechtsstaat“. Was er mit der Linkspartei verknüpfte: „Sie sind Kinder der PDS, Enkel der SED.“ Mithin: „Sie tragen als Partei die Verantwortung.“ In diesem Zusammenhang blickte er auf Koalitionsüberlegungen in Thüringen – und mahnte SPD und Grüne: „Denken Sie an die Symbolik.“ Wer mit der „Stasi von gestern“ über Ministerposten rede, der teile „einen Schlag ins Gesicht der Bürgerrechtsbewegung“ aus. Das „Ziel der Angleichung“ der Lebensverhältnisse sei noch nicht erreicht. Der Transformationsprozess müsse „auch weiter fortgesetzt“ werden.

Stephan Kühn (Bündnis 90/Die Grünen) stufte die friedliche Revolution als „Selbstermächtigung der Bürger zum politischen Handeln“ ein. Dieser Auftrag bestehe weiter. So sei die niedrige Wahlbeteiligung bei den Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen zu bedauern. Er leitete daraus die Notwendig ab, sich für „eine gelebte Demokratie und aktive Bürgergesellschaft“ einzusetzen. Am Bericht der Bundesregierung kritisierte er: „Den Status quo zu beschreiben, hilft nicht.“ Er habe „keine neuen Erkenntnisse, keine neuen Impulse“ ausgemacht, meinte Kühn. Er erwarte im kommenden Bericht konkrete Vorschläge. Wobei es „richtig“ sei, Förderungen „nicht nach der Himmelsrichtung“ vorzunehmen.

Wolfgang Tiefensee (SPD) bezeichnete die Unrechtsstaats-Debatte „ermüdend“. Für ihn ist klar: „Es war ein Unrechtsstaat.“ Das Geschehen am 9. Oktober 1989 beschrieb er als „Mut gegen Ohnmacht“. Es gebe freilich auch in einer Demokratie diese Ohnmacht. Um ihr entgegenzuwirken, sei es notwendig, „sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen“. Ob Mitwirkung in Vereinen, ob Wahrnehmung des Wahlrechts: „Bleibt nicht ohnmächtig, engagiert euch!“, so Tiefensees Appells. Er verwies auf die solidarische Hilfe der West-Länder und der EU für die neuen Länder. Dies müsse nun zur „Solidarität“ mit anderen Europäern führen, „denen es nicht so gut geht“, meinte er mit Blick auf Ungarn oder Tschechien. Zugleich mahnte er Solidarität mit Menschen außerhalb Europas an. Das gelte für die Hilfe vor Ort, aber auch für eine „Willkommenskultur“ gegenüber „Flüchtlingen und denjenigen, die einen höheren Lebensstandard suchen“.

In den zuständigen Bundestags-Ausschüssen wird nun weiter über den Bericht beraten – ebenso über einen Entschließungsantrag der Linksfraktion (18/2751). Darin wird die Bundesregierung unter anderem aufgefordert, „schnellstmöglich einen Aktionsplan zum gesellschaftspolitischen Zusammenhalt vorzulegen, dessen Maßnahmen nicht nur sachlich über die Bundesrepublik vor dem Mauerfall und die DDR, sondern auch über die aktuelle Transformationsphase informieren“. Außerdem solle die Bundesregierung „ein Programm zur Angleichung des Lohn- und Gehaltsniveaus im Osten an das des Westens“ auf den Weg bringen.