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DER FALL YEHYA : Wut auf alles

Der Journalist Christian Stahl schreibt über eine tragisch gescheiterte Integration in Berlin

22.12.2014
2023-08-30T12:26:26.7200Z
4 Min

Der Junge ist sechs, als die Probleme beginnen. In der 1. Klasse der Grundschule soll jeder Schüler sagen, wie er heißt, woher er kommt und was die Eltern machen. Yehya, Sohn palästinensischer Kriegsflüchtlinge, geht nach vorne und sagt wahrheitsgemäß über seine Eltern: „Die arbeiten nicht.“ Die Lehrerin beginnt zu schimpfen und erklärt dem Jungen, dass alle Eltern arbeiten müssten und seine Eltern den anderen damit quasi das Geld wegnähmen. Der Grundschüler ist geschockt, und sein Vater will die Sache klären. Die Antwort der Pädagogin lautet: „Lernen Sie erst mal Deutsch, Herr E., und kommen Sie dann wieder.“ Nun ist auch der Vater geschockt.

Rund 17 Jahre später, in einer persönlichen Erklärung vor dem Kriminalgericht in Berlin-Moabit, erinnert sich Yehya, einst jüngster und nun prominentester Intensivstraftäter aus Berlin-Neukölln, an diese Schlüsselszene zurück: „Ich wusste nicht, warum meine Eltern nicht arbeiten durften. Ich hatte keine Ahnung von Asylbewerbergesetzen und von irgendwelchen Dingen wie einem Duldungsstatus, den der Staat uns gibt. Ich war sechs!“

Die Geschichte des staatenlosen Jungen Yehya, aufgeschrieben von dem Berliner Journalisten Christian Stahl, sollte eigentlich Mut machen und Auswege aufzeigen aus dem Kreislauf von ausländerbehördlichen Verboten, Kriminalität und vagen Hoffnungen. Aber dann wurde der für seine Intelligenz ebenso geachtete wie für seine Brutalität berüchtigte Junge, der einst als vier Wochen altes Baby aus einem Flüchtlingslager im Libanon nach Deutschland gekommen war, doch wieder rückfällig, landete vor Gericht und im Gefängnis.

Zwar ist erst unlängst im Bundestag die Asylgesetzgebung reformiert worden, aber noch immer können Asylbewerber und Geduldete mit Arbeitsverbot und Residenzpflicht belegt werden, auch wenn klar ist, dass Flüchtlinge wie im Fall der Familie E. nicht in einen Staat zurückkehren werden, den es formal gar nicht gibt. Mit ihrem Ermessensspielraum, das wird in diesem krassen Einzelfall Yehya deutlich, prägen Behördenmitarbeiter einen Lebensweg und ruinieren ihn womöglich auch. Das Leben von Asylbewerbern in den Grenzen der Asylgesetze ist ohnehin nicht einfach, wer aber kriminell wird, kann nicht mehr auf behördliche Nachsicht setzen.

Machogehabe Neukölln, rund 320.000 Einwohner, als Berliner Problembezirk mit derzeit 167 dokumentierten Intensivtätern bundesweit bekannt, kommt in dem Buch nicht gut weg, auch wenn der Kiez, um den es hier geht, sich seit Beginn der Recherchen 2007 fundamental gewandelt hat. Aus dem früheren Brennpunkt Nord-Neukölln ist ein beliebter Treffpunkt geworden mit Künstlern, Studenten, jungen Familien und einem originellen Kulturleben. Die Deutschen sind hier in manchen Gegenden in der Minderheit und werden, wie Stahl anmerkt, von den Arabern despektierlich als (vermutlich weiche) „Kartoffeln“ bezeichnet. Die Brutalität der „Gangs von Neukölln“ ist, so hat Stahl herausgefunden, ebenso erschreckend wie vorhersehbar, und erklärt dies so: „In all der Wut, die die selbsternannten Gangster von Neukölln in sich tragen, in all dem Machogehabe und dem brutalen Straßenleben schwingt diese unausgesprochene Sehnsucht mit: einer von uns zu sein.“ Aber nicht jeder Ausländer in Neukölln ist Araber und nicht jeder Araber ist kriminell, tatsächlich gerät nur eine kleine Minderheit auf Abwege, das dann aber bisweilen spektakulär.

Mit seinem Film „Gangsterläufer“ verhilft Stahl seinem damaligen Nachbarn Yehya, dem Jungen mit dem gewinnenden Lächeln, zu Prominenz weit über das lokale Milieu hinaus. Politiker werden auf den smarten Jugendlichen aufmerksam, der als „Boss der Sonnenallee“ in der Szene einen gefürchteten Ruf hat, sich blutige Schlägereien liefert und „Opfer“ in der ebenfalls berüchtigten Rütli-Schule sadistisch unterdrückt. Der Junge ist aber auch einsichtig, selbstkritisch und kann mäßigend wirken auf andere Jugendliche, er schafft Zugänge in eine schwer zugängliche Randgesellschaft.

Kein Pass Yehya ist zu intelligent und reflektiert für einen gewöhnlichen Schläger. Dass Leute von der Ausländerbehörde ihn einmal hilfsweise in die Ukraine abschieben wollen und deutlich machen, dass in ihn nicht investiert wird und daher das Abitur auch nicht in Betracht kommt, verstärkt die in dem jugendlichen Energiebündel flackernde Wut. Der begabte Junge, schreibt Stahl, wollte immer nur raus aus der Kettenduldung, einen Pass, einen Führerschein, eigenes Geld, Abitur, eine Perspektive in Deutschland und keine Abschiebeandrohung in einen fremden Staat. Einmal beschreibt der Autor, wie der zwischenzeitlich geläuterte Yehya auf den Berliner Innensenator Ehrhart Körting (SPD) trifft und fragt, warum er nicht arbeiten und Steuern zahlen dürfe. Körting schweigt lange und räumt dann ein: „Da haben wir vielleicht einen Fehler im System.“

Integrationsfragen Stahl verteidigt die irren Gewalteruptionen des Jungen nicht, die auch dessen Vater, der einst im Nahen Osten ein angesehener und sehr erfolgreicher Geschäftsmann war, entmutigen, und wirkt an vielen Stellen hilflos und ratlos. Er würde gerne eine Erfolgsgeschichte der Integration dokumentieren, aber der Erfolg stellt sich letztlich nicht ein. Am 24. März 2014 wird der 23-jährige Yehya vom Berliner Landgericht wegen Raubes zu fünf Jahren Haft verurteilt.

Gerade wer mit Asylfragen und Integrationspolitik zu tun hat, sollte das aufwühlende Buch, das von der ersten bis zur letzten Seite spannend und differenziert aufgeschrieben ist, lesen und seine Schlüsse ziehen. Die Botschaft des Buches ist gleichwohl zwiespältig: Niemand hat den jungen Araber gezwungen, in diese Sackgasse einzubiegen, und auch die Reaktionen der Ausländerbehörde und Gerichte sind jeweils nachvollziehbar. Dennoch lugt da eine dunkle Seite hervor, ein Verdacht, dass dieser demokratische deutsche Rechtsstaat, der für viele Flüchtlinge die letzte Rettung ist, über Jahrzehnte hinweg integrationsunwillig war und womöglich immer noch integrationsunfähig ist.