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Haushalt : Späte Entschädigung

Bundestag bewilligt zehn Millionen Euro für ehemalige sowjetische Kriegsgefangene

26.05.2015
2023-11-10T16:39:06.3600Z
4 Min

Für Bundespräsident Joachim Gauck war es "eines der größten Verbrechen" des Zweiten Weltkrieges: Etwa drei Millionen von insgesamt mehr als fünf Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen sind bis 1945 in deutschen Lagern umgekommen. Sie starben an Hunger, Krankheiten und Entkräftung. Zehntausende wurden von Wehrmacht und SS erschossen. Unter den Opfern des Nationalsozialismus waren gefangene Angehörige der Roten Armee nach den Juden die zweitgrößte Gruppe. Denn das Massensterben, so lautet ein mittlerweile unter Historikern weithin akzeptierter Befund, war die Folge eines rassenideologisch motivierten Kalküls der Machthaber des Dritten Reiches. Das Schicksal der sowjetischen unterschied sich insofern grundsätzlich von dem der Kriegsgefangenen aus westlichen Ländern, von denen nur drei Prozent im Gewahrsam der Wehrmacht umkamen. Der Kampf an der Ostfront wurde von beiden Seiten mit äußerster Härte geführt. Von den gefangenen deutschen Soldaten kamen die meisten in der Sowjetunion um, rund eine Million von drei Millionen.

Das Verbrechen an den sowjetischen Gefangenen liege bis heute "in einem Erinnerungsschatten", hatte Gauck in seiner Ansprache zum 70. Jahrestag des Kriegsendes gesagt. Ihr "grauenhaftes Schicksal" sei in Deutschland "nie angemessen ins Bewusstsein gekommen", beklagte er bei einem Besuch im früheren "Stammlager 326" unweit Paderborns, wo während des Krieges 65.000 gefangene Rotarmisten starben.

Den "Erinnerungsschatten" aufzuhellen, ist auch das Anliegen der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke, die im vorigen Herbst zwei Anträge

(18/2694, 18/3316) mit gleicher Zielrichtung formulierten: Sie plädieren dafür, das Massensterben sowjetischer Kriegsgefangener als nationalsozialistisches Unrecht anzuerkennen und den Überlebenden eine symbolische Entschädigung zukommen zu lassen.

Bis zu 3.000 Betroffene  In einer Öffentlichen Anhörung des Haushaltsausschusses fand die Initiative vergangene Woche die einhellige Unterstützung der sechs geladenen Sachverständigen. Auch dies bewog den Bundestag dazu, vergangenen Donnerstag im Nachtragsetat 2015 zehn Millionen Euro für die Entschädigung bereitzustellen. Ein erster Vorstoß in diese Richtung war vor knapp zwei Jahren an der damaligen Mehrheit von Union und Liberalen gescheitert. Bei der Entschädigung ehemaliger osteuropäischer Zwangsarbeiter durch die im Jahr 2000 gegründete Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" waren Kriegsgefangene ausgeklammert worden. Antragsberechtigt waren nur jene ehemaligen Rotarmisten, die in Konzentrationslager verschleppt worden waren. In der Anhörung schilderte Volker Beck (Grüne) die Vorgeschichte: In den Verhandlungen über die Zwangsarbeiterentschädigung habe sich aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion niemand dafür eingesetzt, auch ehemalige Kriegsgefangene einzubeziehen. Die russische und ukrainische Seite habe auch nicht sagen können, wie viele Betroffene überhaupt noch leben. Es sei daher relativ frühzeitig entschieden worden, die Kriegsgefangenen unberücksichtigt zu lassen. Aktuellen Schätzungen zufolge könnten noch 2.000 bis 3.000 Betroffene in den Genuss einer Entschädigung kommen. In der Anhörung wies der Völkerrechtler Jochen Frowein darauf hin, dass die Bundesregierung zwar zu Recht die Frage von Reparationen für erledigt halte. Es sei ihr aber unbenommen, durch "einseitige Maßnahmen" Wiedergutmachung zu leisten. Dies sei bisher schon "in beispielloser Weise" geschehen: "Es gibt aber noch eine Reihe von Unrechtsmaßnahmen, für die nie etwas geleistet wurde, so an sowjetischen Kriegsgefangenen. Insofern halte ich diese Überlegungen für ernsthaft notwendig." Ein für Deutschland nachteiliger völkerrechtlicher Präzedenzfall könne daraus nicht erwachsen. Das Schicksal des sowjetischen Kriegsgefangenen sei so singulär, dass daraus keine weiteren Ansprüche abzuleiten seien.

Wichtiger als der Geldbetrag einer symbolischen Entschädigung sei, dass sie "so schnell wie irgend möglich" erfolge, sagte der Historiker Christian Streit, der 1978 die erste grundlegende Studie über die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener im Dritten Reich vorgelegt hat: "Man muss damit rechnen, dass die Zahl der Betroffenen täglich abnimmt. Wenn das irgendeine Wirkung haben soll, muss schnell gehandelt werden." Streit erinnerte daran, dass führende Nazis von den gefangenen Rotarmisten als "Untermenschen" und "Menschentieren" geredet hätten. In Dienstanweisungen für deutsche Wachmannschaften habe es geheißen, der Gebrauch der Schusswaffe gegen sie "gilt in der Regel als rechtmäßig". Als sich der Krieg wider Erwarten hinzog, seien die deutschen Machthaber davon abgekommen, gefangene Rotarmisten in großer Zahl sofort zu ermorden, weil sie als Arbeitskräfte gebraucht wurden, "ohne dass sich ihre Behandlung änderte". Den sowjetischen Kriegsgefangenen seien grundlegende Rechte vorenthalten worden.

Die deutsche Militärführung habe die "Hemmschwelle für Misshandlung und Mord" im Umgang mit Angehörigen der Roten Armee bewusst herabgesetzt, betonte Rolf Keller von der "Stiftung niedersächsische Gedenkstätten". In den Lagern seien sie aus nichtigsten Anlässen erschossen worden. Lange Zeit hätten sie unter freiem Himmel in Erdlöchern vegetieren müssen, weil es für sie keine Baracken gegeben habe. Sie seien insofern Opfer spezifisch nationalsozialistischen Unrechts, als die Täter sich primär von rassenideologischen Erwägungen hätten leiten lassen.

Wichtige Anerkennung  Die Heidelberger Osteuropa-Historikerin Tanja Penter erinnerte daran, dass Heimkehrer aus deutscher Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion als Verräter diffamiert und vielfach ins Straflager verschleppt worden seien. Umso wichtiger sei für die Überlebenden eine Anerkennung des Unrechts von deutscher Seite. Ein teilweise abweichendes Votum formulierte der in der Konrad-Adenauer-Stiftung tätige Historiker Klaus Jochen Arnold. Er bezeichnete eine finanzielle Anerkennung für die Betroffenen als wünschenswert. Er widersprach aber der These, die kriegsgefangenen Rotarmisten seien wie die Juden "Opfer eines zielgerichteten Vernichtungswillens" von Wehrmacht und NS-Führung gewesen.