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EU-PARLAMENT : Gemeinsame Linie gesucht

Die informelle große Koalition droht am Streit über TTIP zu zerbrechen

15.06.2015
2023-08-30T12:28:03.7200Z
3 Min

Das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP (siehe Stichwort) sorgt für offenen Streit im Europäischen Parlament (EP). In einem ungewöhnlichen Schritt entschied sich Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) am Vorabend, die für vergangenen Mittwoch in Straßburg vorgesehene Abstimmung zum Handelsdeal mit den USA kurzfristig abzusetzen. Formal berief er sich dabei auf die ungewöhnlich hohe Zahl an Änderungsanträgen. Der wahre Grund war jedoch, dass er fürchtete, der zuvor mühsam zwischen Sozialdemokraten und Christdemokraten ausgehandelte Kompromiss würde nicht halten.

Die Abgeordneten werden nun wohl frühestens im September über TTIP abstimmen. Nach der Verschiebung der Abstimmung hatten die Europaabgeordneten am Mittwoch mit knapper Mehrheit entschieden, auch die Debatte zu verschieben. Dabei kam es zu tumultartigen Szenen, in der die politische Auseinandersetzung im Plenum eine in Straßburg selten erlebte Schärfe erreichte. Schulz wollte mit der Verschiebung eine offene Blamage vermeiden. Indem sich das EP nun aber offen uneinig zeigt, schwächt es auch die eigene Position im Verhandlungspoker.

Die ist schwierig genug. Denn die Abgeordneten haben in den Gesprächen zwischen EU und USA, die die EU-Kommission im Auftrag der 28 Mitgliedstaaten führt, keine formale Rolle. Das EP beeinflusst das Geschehen nur indirekt, indem es abschließend über das fertig ausverhandelte Abkommen abstimmt. Das verleiht den Abgeordneten Macht, weil die Unterhändler immer im Hinterkopf behalten müssen, dass ohne Zustimmung aus Straßburg das TTIP-Abkommen nicht Realität werden kann. So lange das EP sich aber nicht auf einen Standpunkt festlegt, wissen die Unterhändler allerdings nicht, woran die Abgeordneten TTIP messen werden. Die verschobene Resolution hätte die Bedingungen der Volksvertreter klar auflisten sollen.

Der Streit unter den Abgeordneten entzündet sich an den Schiedsgerichten für Streitigkeiten zwischen Investoren und Staaten, bekannt unter dem Akronym ISDS. Der Investorenschutz, der Unternehmen vor staatlicher Willkür schützen soll, ist zunehmend in die Kritik geraten. Kritiker sprechen von einer "Paralleljustiz", bei der alleine die Androhung einer Klage der Politik Gestaltungsmöglichkeiten nimmt. So ficht aktuell der Tabakkonzern Philip Morris vor einem Schiedsgericht die australische Gesetzgebung an, die Tabakhersteller zu einheitlichen Schachteln ohne Logo verpflichtet.

Der Berichterstatter für TTIP im Europäischen Parlament, der niedersächsische SPD-Abgeordnete Bernd Lange, hatte im Handelsausschuss einen Kompromiss zu ISDS ausgehandelt. Dabei sollten die Abgeordneten das bisherige System mit privaten Schiedsrichtern zurückweisen und die EU-Kommission zu umfassenden Reformen auffordern. EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström hatte dazu bereits Vorschläge vorgelegt, die darauf abzielen, ein internationales Handelsgericht zu schaffen, das Investoren künftig anrufen könnten. An die nationale Justiz können sich Investoren nicht wenden, da es um Fragen des Völkerrechts geht.

Unter dem Druck von ISDS-Kritikern wollte Lange den Kompromiss nun noch einmal modifizieren. Er brachte für die Abstimmung im Plenum einen neuen Änderungsantrag ein, der eine explizite Ablehnung von privaten Schiedsgerichten vorsah. "Eine Mehrheit im Europäischen Parlament muss private Schiedsstellen ohne Wenn und Aber ausschließen", argumentierte Lange und verwies auf eine Vielzahl von Briefen, in denen er aufgefordert wurde, nicht weiter an ISDS festzuhalten. Die Christdemokraten, die den Kompromiss ursprünglich unterstützten, fühlten sich von Langes Schwenk brüskiert: "Wir haben uns nach Monate langen Verhandlungen auf einen Kompromiss geeinigt, dann drehen wir uns um und Herr Lange stellt alles in Frage", sagt die CDU-Abgeordnete Godelieve Quisthoudt-Rowohl.

Offen ist nun, ob Sozial- und Christdemokraten noch eine gemeinsame Linie finden werden. Nur wenn sich die beiden größten Fraktionen in ihrer informellen großen Koalition im Europäischen Parlament verständigen können, hat die Resolution noch eine Chance. TTIP ist damit das erste konkrete Beispiel, dass die Mehrheitsbildung im Europäischen Parlament seit den Wahlen im Mai 2014 schwieriger geworden ist. Damals hatten linke und rechte Gruppen an Macht hinzugewonnen. Nach der Absage des Votums sagte der Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe im EP, Herbert Reul: "Der heutige Tag zeigt, dass im Europaprlament ohne eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen Christdemokraten und Sozialdemokraten keine stabilen Mehrheiten möglich sind."

Die Autorin ist Korrespondentin der Wirtschaftswoche in Brüssel.