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uKRAINE : Parlamentsvize Syroid: »Wir müssen die Herzen der Menschen erreichen«

Ungeachtet des Krieges arbeiten Regierung und Parlament an grundlegenden Reformen. Polen wird inzwischen als natürlicher Verbündeter angesehen

15.06.2015
2023-08-30T12:28:03.7200Z
4 Min

Die schlechten Nachrichten vom Kriegsschauplatz in der Ostukraine reißen nicht ab, aber Parlamentarier in Kiew versuchen unverdrossen, ihr Land demokratisch umzugestalten und mit grundlegenden gesellschaftlichen Reformen neue Akzeptanz in der Bevölkerung zu erlangen. So zumindest lautete die Botschaft der Vizepräsidentin des Parlaments in Kiew, Oksana Syroid. Sie war vergangene Woche zusammen mit dem Fraktionschef ihrer liberalen "Selbsthilfepartei" (Samopomitsch), Oleg Bereziuk, in Berlin zu Besuch auf der Suche nach politischer Unterstützung und administrativem Know-how. Die "Selbsthilfepartei" erreichte bei den Parlamentswahlen im Herbst 2014 knapp elf Prozent der Stimmen, errang in Lwiw (Lemberg) ein Direktmandat und ist Teil der Koalition von Premier Arsenij Jazenjuk.

Es gehe um nicht weniger als die Neuordnung der gesamten Verwaltungs- und Rechtsebene, machten die Parlamentarier deutlich, die sich zur jungen, veränderungswilligen Generation ihres Landes zählen. Syroid, Jahrgang 1976, und Bereziuk, Jahrgang 1969, räumten ein, dass der Krieg mit den von Russland beeinflussten Separatisten im Land die nötigen Reformen erschwert und das Reformtempo verzögert. Gleichwohl sind ihrer Ansicht nach bereits wichtige Fortschritte erzielt worden. Nach dem Sturz des früheren Präsidenten Wiktor Janukowytsch 2014 und einem Kassensturz sei zum Beispiel die Finanz- und Steuerverwaltung neu strukturiert worden. Der Staat sei früher von der Janukowytsch-Administration "ausgeraubt" worden, beklagte Bereziuk. Die hohe Besteuerung habe die Schattenwirtschaft blühen lassen.

Inzwischen hat nach Aussage der beiden Politiker die Ukraine ungeachtet des Krieges eine relative Stabilität erreicht, was das Verwaltungshandeln betrifft. Erstmals gebe es zudem eine echte Kommunikation zwischen Präsident und Parlament, sagte Syroid, und die Veränderungen in den politischen und parlamentarischen Prozessen seien für die Bevölkerung auch spürbar.

Seit genau einem Jahr ist der Unternehmer und frühere Oligarch Petro Poroschenko Staatspräsident in der Ukraine und angesichts der seit Monaten andauernden Gefechte zugleich oberster Feldherr. Er trat das höchste Staatsamt voller Zuversicht, aber unter den denkbar schwierigsten Umständen an. Mitbestimmung und transparente Strukturen sind neu in einem Land, das bis vor kurzer Zeit dem sowjetischen Gesellschaftsideal folgte. "Es ist auch immer noch viel Russen-Propaganda im Umlauf", merkte Bereziuk kritisch an, der mit den angestrebten Reformen auch die "Oligarchen-Ökonomie" ad acta legen will.

Die Korruption ist nach wie vor ein Klotz am Bein der Reformer und nach Ansicht der Abgeordneten mit Gesetzen alleine nicht zu bekämpfen. Mit dem Generalstaatsanwalt habe man daher ein ernstes Gespräch geführt. Im Rechtssystem seien nun Fortschritte auszumachen. "Ein Zurück zu Sowjet-Traditionen wird es nicht geben", stellte Bereziuk klar und machte zugleich die Dimension der gesellschaftlichen Reformen deutlich: "Wir brauchen eine Deregulierung, eine Dezentralisierung und eine Demonopolisierung." In drei Jahren, so die Hoffnung, könnten die Reformen greifen.

Die wichtigste Aufgabe liegt jedoch jenseits der Strukturpolitik: Es geht nach Darstellung der beiden Parlamentarier darum, das eingetrübte Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen zurückzugewinnen. "Die Leute misstrauten dem Staat und die kleinen Leute hatten Angst vor dem Staat", fasste Bereziuk das Problem zusammen, und Syroid formulierte es so: "Wir müssen die Herzen der Menschen erreichen." Die Ukrainer seien leidensfähig, wenn dies von der Hoffnung auf eine gute Regierungsführung begleitet werde. Von der Annäherung an die Europäische Union erhoffen sich die jungen Liberalen, wie sie sagten, "menschliche Werte".

Ihre polnischen Nachbarn sehen die jungen Abgeordneten als quasi natürlichen Verbündeten gegen Russland an. Polen sei ein wichtiger strategischer Partner, sagte Syroid. Sie räumte ein, dass es in der Vergangenheit schwere Konflikte zwischen beiden Völkern gegeben habe. Inzwischen jedoch dominiere aus ihrer Sicht das gut nachbarschaftliche Verhältnis. Als Vorsitzende eines interparlamentarischen Gremiums von Ukrainern und Polen erlebe sie einen neuen, offenen Umgang. "Wir gehen ganz natürlich miteinander um." Die Probleme aus der Geschichte seien dabei kein großes Thema mehr. Im Übrigen sei beiden Ländern völlig klar, dass die größte Gefahr von Russland ausgehe. Die Abgeordneten betonten: "Beide Länder leiden unter Russland, wir sind vereint in der Gefahr und müssen zusammenstehen."

Prognose Für die kommenden Monate sieht insbesondere auch die wirtschaftliche Situation der Ukraine alles andere als rosig aus. Der Internationale Währungsfonds (IWF) korrigierte seine Prognose nach unten: Das Bruttoinlandsprodukt werde 2015 nicht wie bisher angenommen um 5,5 Prozent, sondern um neun Prozent schrumpfen. Die Inflationsrate soll demnach 46 Prozent anstelle der bislang erwarteten 27 Prozent betragen. Die Kämpfe zwischen Regierungstruppen und prorussischen Separatisten im Osten des Landes hätten sich stärker als angenommen auf die Wirtschaft ausgewirkt, begründete der IWF seine Einschätzung.

Reichlich Konfliktstoff gibt es zudem in der Frage einer Umschuldung. Bedingung für das unter anderem vom Währungsfonds mit

17 Milliarden US-Dollar getragene Hilfspaket in Höhe von insgesamt 40 Milliarden US-Dollar ist, dass sich die Ukraine mit ihren privaten Gläubigern auf einen Schuldenschnitt oder eine Stundung einigt, in den Verhandlungen darüber wurden bisher kaum Fortschritte erzielt. Vergangene Woche warnte die ukrainische Finanzministerin Natalija Jaresko bereits davor, dass Kiew bald gezwungen sein könnte, Zahlungen an die Kreditgeber einzustellen: "Wenn wir keine Fortschritte machen, provozieren die Gläubiger das", sagte Jaresko bei einem Besuch in Washington. Sie rechne allerdings mit einer IWF-Zahlung von 1,7 Milliarden Dollar im Juli, selbst wenn bis dahin keine Umschuldung vereinbart sei.

Der IWF knüpft seine Hilfen auch an Sparauflagen und Wirtschaftsreformen. Ende März hatte die Regierung ein Reformpaket durch die Rada gebracht, das unter anderem den Stellenabbau in der Verwaltung sowie Steuererhöhungen für Reiche und einen Wegfall von Subventionen vorsieht, darunter auch für die Gaspreise für Privathaushalte: Seit Mai müssen diese rund 40 Prozent mehr bezahlen als bisher.