Piwik Webtracking Image

Demokratie : Von der Last des Risikos

Die Träger politischer Entscheidungen werden immer stärker durch plötzliche Paradoxien beeinflusst

28.09.2015
2023-08-30T12:28:09.7200Z
9 Min

Der Bundestag steht vor einer Kaskade von Gesetzesbeschlüssen. Denn die Abgeordneten müssen schnell darüber entscheiden, wie der enorme Flüchtlingszustrom nach Deutschland mit Regeln, Bestimmungen, Vorschriften zu erfassen und zu händeln ist. Eine unmittelbare Dringlichkeitsaufgabe für die Berliner Parlamentarier. Zugleich gilt es jedoch, Maßnahmen und Perspektiven zu entwickeln für die Zukunft dieser Flüchtlinge, um einer hinlänglichen Integration dieses Personenkreises gerecht werden zu können.

Die Thematik brennt inzwischen dem ganzen Land auf den Nägeln. Das Ausmaß dieser Flüchtlingskrise ist voll in das öffentliche Bewusstsein gedrungen. Und natürlich auch die Risiken, die damit verbunden sind. Es zeigen sich abermals Züge einer politischen Hybris, wie sie Ende August die Runde machten, als das Parlament, aus der Sommerpause heraus, zu Eilentscheidung in Sachen Griechenland ins Plenum geholt wurde.

Aber da wie jetzt: Was die Abgeordneten auch votieren mögen - sie glauben, sich für das Richtige durchgerungen und entschieden zu haben - und doch kann es sich als das Falsche herausstellen. Denn niemand weiß mit Gewissheit vorauszusagen, wie die Realisierung der Beschlüsse verlaufen wird. Dies liegt nicht allein in der Urteilskraft des einzelnen Entscheiders, sondern in einer Vielzahl von Fakten und Gegebenheiten. Sie können sowohl objektiver Art sein, also politischer, ökonomischer, sozialer oder kultureller Natur, aber auch subjektiver Erwägungen, eben individuellen menschlichen Wollens und Agierens, bis hin zu augenblicklichen und opportunistischen Handlungen.

Kein neues Phänomen Wer heute politische zukunftsträchtige Entscheidungen zu treffen hat - und zwar jenseits eingeübter bürokratischer Administration -, der kann sich nur im Bewusstsein eines immanenten Risikos entscheiden. Es ist keineswegs ein neues Zeitphänomen. Der Trierer Politikwissenschaftler Hanns W. Maull meint festzustellen, seit einem Vierteljahrhundert bestehe der "Megatrend" einer "sich tendenziell immer weiter öffnenden Schere zwischen dem Bedarf an politischer Steuerung einerseits und der Fähigkeit der Politik, die Steuerleistungen zu erbringen, anderseits". Dieses "Angebots-Nachfrage-Dilemma" der Politik, so Maull, sei im Kontext der Globalisierung entstanden, sowohl durch die weltweite Vernetzung als auch durch die Fragmentierung des politischen Geschehens. Nimmt man diese Zustandsbeschreibung beim Wort, dann heißt dies: Zukunftswirksame Entscheidungen können nur unter einem hohen Risikovorbehalt gefällt werden.

Allerdings hat der Soziologe Ulrich Beck die Symptome der Überforderung wie der Überlastung bei politischen Entscheidungsprozessen bereits vor drei Jahrzehnten auf die griffige Formel der "Risikogesellschaft" gebracht. Für den kürzlich verstorbenen Münchener Wissenschaftler war diese soziale Formation ein "Projekt der Moderne", eben Ausdruck und Ergebnis der entwickelten Industriegesellschaft. Zur Risikogesellschaft sei sie, jenseits von Fortschritt und Wachstum, wegen "der Unmöglichkeit externer Zurechenbarkeit von Gefahrenlagen" geworden. Zwar beruht diese Analyse Becks vor allem auf der kritischen Durchdringung des technisch-ökonomischen Fortschritts. Aber der Soziologe bedachte dabei auch die unausweichlichen Konsequenzen für den politischen Entscheidungsprozess in einer Risikogesellschaft. Seine Schlussfolgerung: Es komme zur "Entgrenzung der Politik", weil die Risiken zum "Motor der Selbstpolitisierung" würden und sich dadurch "Begriff, Ort und Medien von Politik" veränderten.

Beck musste mit seiner subtilen Analyse nicht lange im Gehäuse der Wissenschaft verweilen. Denn das Schicksal fügte es, dass seine skeptische Zukunftsprognose durch die grausige Realität alsbald bestätigt wurde. Kurz nach dem Erscheinen seiner Studie ereignete sich die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, jener atomare Super-Gau, bei dem - um mit Beck zu sprechen - die "Gewalt der Gefahr, die alle Schutzzonen und Differenzierungen der Moderne aufhebt", für jedermann sichtbar wurde. Wer wollte da an einem Begriff der Risikogesellschaft noch Zweifel anmelden? Damit erhielt jedoch auch die Systemfrage, die Beck im Hinblick auf politische Prozesse und deren Entscheidungsträger anschnitt, eine realitätsnahe Hinterfragung. Die politischen Institutionen würden in einer Risikogesellschaft "zu Sachwaltern einer Entwicklung, die sie weder geplant haben noch gestalten können, aber doch verantworten müssen".

Dass sich diese Bedingungen für die Politik eher noch zum Schlechteren verändert haben, ist unübersehbar. Längst ist von "systemischen Risiken" die Rede, die Gegenwart und Zukunft oft beängstigend belasten und gefährden. Als da sind: Klimawandel, Ressourcenverbrauch, Terror, Fluchtbewegungen, aber auch Euro-Krise, Schuldenlasten, Bankenpleiten, Datenüberwachung, soziale Ungleichheiten, Demografie - "Bedrohungen, die wegen ihres globalen und vernetzten Charakters zu multiplen Kaskaden von Auswirkungen führen können, die grenz- und funktionsübergreifende Schäden hervorrufen", wie der Stuttgarter Soziologe und Risikoforscher Ortwin Renn feststellt. Gerade bei den systemischen Risiken moniert Renn "die zentrale Position der Steuerungsdefizite (governance deficits)". Auch er konstatiert deshalb, dass "die herkömmlichen Instrumente politischer Steuerung überfordert" sind.

Für Berufsoptimisten, die ja auch in den Reihen der politischen Klasse anzutreffen sind, mögen solche Einwürfe und Warnungen nur schwer nachzuvollziehen sein. Sie kratzen nicht selten an ihrem politischen Identitätsstatus, zumindest jedoch an ihrem persönlichen Selbstwertgefühl. Dennoch wird wegen der Zunahme systemischer Gefahren die umfassende Kompetenzfähigkeit der Politiker infrage gestellt.

Das mag für viele Parlamentarier eine schwierige, vielleicht sogar bittere Erkenntnis sein. Schließlich sind ganze Generationen von Nachkriegspolitikern im Sinne einer angeeigneten Verantwortungsethik sozialisiert worden - eine Verhaltensnorm, die nach dem hemmungslosen Gesinnungsterror des Nazi-Regimes nicht nur als eine adäquate, sondern sogar als eine zwingend notwendige Richtschnur politischen Handelns erschien. Max Weber, der Begründer der deutschen Sozialwissenschaft, hatte vor einem Jahrhundert, als er "Politik als Beruf" definierte, die evidente Unterscheidung zwischen Verantwortungsethik und Gesinnungsethik gezogen. Er tat es, Analogie der Geschichte, unter dem bedrückenden Erlebnis des desaströsen Endes des Ersten Weltkriegs.

Das politische Handeln in seinen Wirkungen und Auswirkungen zu reflektieren, Entscheidungen vielleicht sogar von ihrem Ende her zu denken, auf jeden Fall für die Folgen politischer Entscheidungen aufzukommen: Das bedeutete für Weber Verantwortungsethik. Sich dagegen nur verantwortlich zu fühlen, dass "die Flamme der reinen Gesinnung nicht erlischt": Eine solche Haltung sei zu "ganz irrationalen Taten" fähig. Für diese Gesinnungsethik hatte der Nationalsozialismus mit seinen ideologischen, rassistischen und aggressiven Exzessen genügend Anschauungsmaterial geliefert. Nicht zufällig war danach die Berufung deutscher Politiker auf die Verantwortungsethik eine historisch zu rechtfertigende Verpflichtung.

Allerdings hat Weber diejenigen, die "vollends Politik als Beruf betreiben", zugleich recht nachdrücklich vor den "Paradoxien" gewarnt, die mit ihrer Tätigkeit verbunden sind. Denn der Politiker lasse sich, so diagnostizierte er, mit "diabolischen Mächten" ein. Ganz gewiss würde man heute diese unheimlichen Abgründe in eine andere verbale Folie packen. Dennoch behalten sie im Kern ihre verblüffende Aussagekraft. Mehr noch: Je größer die Komplexität politischer Entscheidungen wird, was inzwischen ja außer Zweifel steht, desto stärker nehmen auch die Paradoxien zu. Was heute beschlossen ist, kann morgen bereits verworfen sein; was jetzt als sicher gelten kann, ist oft schon gleich wieder schwankend. Damit steigt permanent auch der Risikopegel, und zwar nicht nur durch die plötzlichen Katastrophen und unvorhersehbaren Debakel, die immer wieder in unseren Alltag hereinbrechen, sondern auch durch die zunehmende Unberechenbarkeit individueller Willensakte. Gerade dieser personelle Faktor hat in den letzten Jahren bei den Prozessen von Meinungsbildung und Entscheidungsfindungen enorm zu einer Vergrößerung des Risikopotentials beigetragen.

Deren Beispiele sind mannigfach, aber es sollen, auch im Blick auf die Bedingungen der Parlamentsarbeit in Berlin, nur zwei augenfällige Muster benannt werden: Das ist einmal die kantige Debatte über das dritte Euro-Hilfspaket für Griechenland; dann die enormen Flüchtlingsbewegungen der letzten Wochen.

Es ließ aufhorchen, dass bei der Bundestagssitzung am 19. August 2015, zu der die Abgeordneten aus der Sommerpause heraus in den Plenarsaal getrommelt worden waren, die Debattenredner aus den Reihen der schwarz-roten Koalition fast gebetsmühlenhaft die Vorteile gerade dieses Hilfsprogramms für Athen herausstrichen. Wohl nicht von ungefähr, war doch diese Übereinkunft dem griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras hart abgerungen worden. Ob Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), der vorher zeitweise mit einem Grexit kokettiert hatte, Thomas Oppermann (SPD), Volker Kauder (CDU) oder Gerda Hasselfeldt (CSU): Alle waren des Lobes für die Vereinbarung.

Beschwörungsformeln als Selbstvergewisserung, um die eklatanten Risiken früherer Hilfspakete für Griechenland wenn nicht vollends auszuschließen, so doch vor einer kritischen Öffentlichkeit zu minimieren. Es half, denn am Ende stand im Bundestag eine Mehrheit. Doch die Paradoxie erfolgte andernorts. Nur einen Tag nach der strittigen Abstimmung in Berlin trat Alexis Tsipras in Athen als Regierungschef zurück. Es folgten Neuwahlen, die der Syriza-Chef zwar gewann, so dass er wieder ein Kabinett unter seiner Führung bilden kann. Aber schon mehren sich in Griechenland die Stimmen, die eine Aufweichung, gar Revision der Bedingungen des dritten Hilfspakets befürworten, gar verlangen. Den Grexit mit Hängen und Würgen vermieden, aber das Risiko, so leidenschaftlich in Berlin kleingeredet, platziert sich wieder auf der Tagesordnung.

Der andere Präzedenzfall: Kanzlerin Angela Merkel (CDU) gerät immer vehementer unter Druck, weil sie angesichts des drohenden humanitären Desasters mit den Flüchtlingsströmen an den süd- und mitteleuropäischen EU-Außengrenzen für diese verzweifelten Menschen Deutschland als Zufluchtsort öffnete. Die Risiken gingen von den nationalen Eigenmächtigkeiten Viktor Orbans und anderer osteuropäischer Politiker aus, die sich mit ihren Verweigerungen regelwidrig außerhalb der EU-Vereinbarungen stellten. Aber auch die mehrfachen Erklärungen der Kanzlerin zu den Flüchtlingsbewegungen lösten eine solche Eigendynamik aus, so dass sich die deutsche Politik wachsendem Risikodruck ausgesetzt sieht, im eigenen Land wie bei den europäischen Partnern. Die Paradoxien drohen, zumindest zeitweise, in einem Chaos zu münden. Dabei ist es nur die aktuelle Vorstufe zur tatsächlichen Bewältigung des Flüchtlingszustroms. Mit dessen tatsächlicher Eingliederung und Integration bleiben immense Unsicherheiten verbunden, weil Rückgriffe auf übliche administrative Routine wenig aussichtsreich und erfolgversprechend erscheinen.

Unübersehbar ist allerdings, dass durch die Ballung der Paradoxien das System Merkel, also der Regierungsstil dieser Kanzlerin, der in den Medien zumeist mit den Begriffen des Abwartens und Abwägens umschrieben wird, an seine Grenzen stößt, eben durch den beschleunigten Takt der Unwägbarkeiten in den letzten Wochen. Merkel selbst hat diese Wendung wohl erkannt, als sie kürzlich bemerkte: "Deutsche Gründlichkeit ist super, aber es wird jetzt deutsche Flexibilität gebraucht." Lässt sie dies auch für sich gelten, betritt sie neues politisches Terrain. Ähnlich ergeht es aber auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) mit seiner beweglichen und anpassungsfähigen Außenpolitik, mit der er den Paradoxien des internationalen Geschehens zu begegnen versucht. Kreative Diplomatie trifft auf Barrieren, wenn Intransigenz die Oberhand gewinnt. Augenblicklich liefert die EU dafür einige beweiskräftige Belege.

Die Last des Risikos: Sie wird künftig mehr und mehr auf vielen politischen Betätigungsfeldern liegen. Den Versuchen, sich durch kompetente Expertise und wissenschaftliche Beratung dagegen abzusichern, wie es allenthalben ausgiebig im Parlament wie in der Regierung geschieht, wird nur dann ein zufriedenstellender Erfolg beschieden sein, wenn Konflikte und Dilemmata erkennbar und beherrschbar sein werden. Wer hat schon alle jene querschlägigen Paradoxien geahnt, die gegenwärtig die politische Agenda bestimmen: Putins Krim-Annexion, die Ukraine-Krise, die IS-Massaker, die bürgerkriegsähnlichen Zustände in Nahost, der reihenweise Verfall afrikanischer Staaten, aber auch die Energiewende, die Euro-Krise, die EU-Spaltung. Und nun auch noch die weltweiten Abgas-Manipulationen bei VW. Diese Entwicklungen lassen das System der repräsentativen Demokratie nicht unberührt. Das betrifft das Selbstverständnis der Politiker, sowohl ihre Möglichkeiten als auch ihre Defizite in dieser immer unübersichtlich werdenden Gemengelage; dann aber auch das Verhältnis der Bürger zur Politik und den Entscheidern.

Dass das Image der Politiker nicht zum Besten steht, ist unbestreitbarer Tatbestand. Allerdings haben die Politiker selbst an solchen irritierenden Befunden einen bestimmten Anteil. Viele Amtsträger vermitteln nach außen gern das Bild einer Allzuständigkeit, die sie längst nicht mehr besitzen. Risiken werden umgangen oder verschwiegen, dafür vollmundige Versprechungen ("Die Rente ist sicher") oder freihändige Ankündigungen ("Wir schaffen das") getätigt. Eine selbst zweifelnde Distanz zum eigenen Tun und Lassen vermag sicherlich den abträglichen Verwerfungen in der Politik vorzubeugen. "Wenn ich 20 Prozent der Entscheidungen begreife, die ich zu treffen habe, dann bin ich schon gut," sagte kürzlich der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linken, Dietmar Bartsch, in Berlin. Diese nüchterne Tonlage schützt vor Selbstüberschätzung.

Neue Spielräume Auf der anderen Seite müssen weite Bevölkerungsteile ihre Erwartungen und Ansprüche an die Politiker auf die tatsächlichen Möglichkeiten herunterschrauben. Denn der Anforderungskatalog an den "Staat", also an Parlament und Verwaltung, übersteigt vielfach die Zuständigkeiten und Fähigkeiten der Politiker. Allerdings ist seit einiger Zeit hier eine Gegenbewegung zu beobachten. Zivilgesellschaft und Bürgerschaftsengagement haben sich beachtliche Spielräume und Gestaltungspartizipationen verschafft, damit für das Gemeinwesen andere Akzente und wertvolle Impulse gesetzt. So wäre die jetzt hochgelobte Willkommenskultur gegenüber den Flüchtlingen ohne diesen zivilgesellschaftlichen Aufbruch nicht zustande gekommen. Die Bürgerschaft zeigte sich in diesem Falle weiter als die Politik. Ohne diese spontane Hilfsbereitschaft der Bürger hätte Merkel, nur auf Behörden und Verwaltungen gestellt, mit ihren humanitären-empathischen Appellen wohl schlecht ausgesehen.

All dies wird die Paradoxien nicht verhindern, die Risiken nicht bannen. Aber die destruktiven Elemente dieser Phänomene können abgefedert werden. Die deutsche Gesellschaft hat sich auf einen eigenen, sympathischen Weg gemacht. Um noch einmal Ulrich Beck zu zitieren: "Die Politik muss die Selbstbegrenzung, die historisch vollzogen wurde, nachvollziehen. Politik ist nicht länger der einzige oder auch nur zentrale Ort, an dem über die Gestaltung der Zukunft entschieden wird." Die Last des Risikos fände so eine breitere Tragfähigkeit.