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KUNST UND POLITK : Wechselspiele

Podiumsdiskussion im Bundestag über ein spannungsreiches Verhältnis

09.02.2015
2023-11-08T12:40:19.3600Z
5 Min

Die Hauptstadt im Berlinale-Fieber: Am Abend des 5. Februar wurden die Internationalen Filmfestspiele feierlich und mit großem Staraufgebot eröffnet. Ein trefflicher Anlass, um über das Verhältnis von Kunst und Politik zu sinnieren. Und doch, das macht Moderator Christoph Stölzl zu Beginn der Podiumsdiskussion im Mauer-Mahnmal des Bundestages, die zeitgleich zur Berlinale-Eröffnung stattfand, klar: An dieser „früheren Nahtstelle zwischen Ost und West“ könne es nur um das spezifisch deutsche Verhältnis zwischen Kunst und Politik gehen, sagte der Historiker, Publizist und Politiker Stölzl.

Seine beiden Gesprächspartner sind wie er selbst prädestiniert, über das nicht immer unproblematische Wechselspiel zwischen Kunst und Politik in Ost und West zu diskutieren. Der eine, Norbert Lammert, 1948 in Bochum geboren, ist als langjähriger Präsident des Deutschen Bundestages bestens vertraut mit allen kulturpolitischen Debatten. Der andere, Lutz Friedel, hat eine „lupenreine Ostkünstler-Biografie“, wie Stölzl es nennt: Im selben Jahr wie Lammert in Leipzig geboren, befand sich der Maler viele Jahre in kritischer Distanz zur politischen Klasse der DDR. Sein Versuch, dort als unabhängiger Künstler zu leben, scheiterte; 1984 siedelte er in die Bundesrepublik über. Die Ausstellung „Möve auf Sirene. Vom Untergang der Titanic und anderem“, die über dieses Ringen um selbstbestimmte Arbeits- und Lebensmöglichkeiten in der DDR Auskunft gibt, ist noch bis zum 22. Februar 2015 im Mauer-Mahnmal des Bundestages zu sehen.

Mit Friedel sitzt also an diesem Abend ein Künstler auf dem Podium, dessen Werk früh in Opposition zum damals herrschenden Regime entstand und das bis heute dadurch stark geprägt ist. Und dennoch: Auf die Frage, wann er begonnen habe, das Verhältnis zwischen Kunst und Politik als problematisch zu empfinden, antwortet Friedel, dass das „ein schleichender Prozess“ gewesen sei. „Irgendwann hat man die Willkür erkannt in diesem Staat“, erzählt der frühere Meisterschüler Bernhard Heisings. Mit 18 aber habe er einfach studieren wollen, und zwar „in Dresden; ich hatte Dix und Kokoschka im Kopf“.

Selbstverständnis  Stölzl macht darauf aufmerksam, dass es bei allen Unterschieden zwischen dem Selbstverständnis von Bundesrepublik und DDR – „der Staat als Kulturveranstalter, das war gar nicht anders denkbar in der DDR“ –, auch Gemeinsamkeiten gegeben habe. Auch die Bundesrepublik habe Aufträge an Künstler vergeben – und vergebe sie bis heute. „Die Demokratie tut es also auch“, meint der Präsident der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar. „Dabei könnte man fragen: Warum tut sie das eigentlich?“

Das sei eine spannende Frage, entgegnet Lammert. Dabei falle ihm auf, dass es kein explizit westliches Kulturverständnis gebe: „Dem angelsächsischen Kulturverständnis zufolge sind Kunst und Kultur eine rein private Angelegenheit, die den Staat gar nichts angeht.“ In Frankreich und Deutschland hingegen habe sich das Verständnis herausgebildet, dass Kulturförderung eine öffentliche Aufgabe sei. Die Bundesrepublik habe von der deutschen Geschichte profitiert: Die Fürsten der deutschen Kleinstaaten hätten miteinander um die schönsten Kunst- und Bauwerke konkurriert und sich als Mäzene betätigt. „Ich empfehle, diese Tradition mit Zähnen und Klauen zu verteidigen“, fordert Lammert. Auf den Einwand Stölzls, dass es dafür keine verfassungsrechtliche Grundlage gebe, antwortet Lammert, umso mehr müsste diese Tradition eben mit Zähnen und Klauen verteidigt werden.

Reichstagsverhüllung  Stölzl erinnert sodann an die im Vorfeld heftig umstrittene Verhüllung des Reichstagsgebäudes durch Christo 1995. Vom Bundestagspräsidenten will Stölzl wissen, ob dieses Ereignis das Verhältnis der politischen Klasse zur Kunst grundlegend verändert habe. Nein, entgegnet dieser. Aber es habe die Stadt verändert. „Dieses Gebäude wurde verhüllt und der Stadt dann wieder zur Verfügung gestellt. Das war ein unglaublicher und so sicherlich nicht wiederholbarer Vorgang.“ Friedel ist der Gedanke einer Art Weihe des Reichstagsgebäudes durch die Christo-Verhüllung zwar neu, aber sie sei ihm sehr sympathisch. Ob Christo das beabsichtigt habe, sei eine andere Frage, aber letztlich auch egal.

Auf die Rolle des Bundestages als „Player auf dem Kunstmarkt“ kam Stölzl dann zu sprechen: Es sei doch sehr ungewöhnlich, dass ein Parlament sich eine eigene Kunstsammlung leiste. Dem stimmt Lammert zwar zu, erinnert zugleich aber daran, dass im Einigungsvertrag die Zuständigkeit des Bundes für die Kunstförderung im Osten festgeschrieben worden sei. Das sei aus der Sorge heraus geschehen, die Kunst- und Kulturszene der früheren DDR könnte sonst zusammenbrechen – und prompt habe der Passus Begehrlichkeiten auch in den alten Bundesländern nach finanzieller Unterstützung geweckt. „Dass die Bundeskompetenz für Kunst und Kultur heute von niemandem ernsthaft bestritten wird, ist eine ziemlich direkte Nebenwirkung der Wiedervereinigung“, meint Lammert .

Die provokante Frage Stölzls, ob es nicht eine Schwäche sei, dass die Politik Entscheidungen über Kunst im öffentlichen Raum gerne an Kommissionen delegiere, kontert Lammert mit dem ironischen Hinweis auf Helmut Kohl und dessen Entscheidung von 1993, die Neue Wache in Berlin umgestalten zu lassen. Dies sei „eine der letzten Feudalentscheidungen eines Potentaten“ gewesen. Im konkreten Fall möge man das für einen Glücksfall halten, grundsätzlich sei ein solches Vorgehen aber kein Modell, um in einem demokratischen Gemeinwesen über Kunst zu entscheiden.

Als „letztes Reservat der Politik“ bezeichnet Stölzl zum Abschluss der Diskussion das Privileg der Kanzler, sich den Künstler selbst aussuchen zu dürfen, der sie für die berühmte Ahnengalerie im Kanzleramt porträtiert. Kohl habe sich von Friedel malen lassen. Wie ihm das Porträt gefallen habe, wisse man allerdings nicht. Da konnte der Künstler Aufklärung leisten: „Kohl hat zu mir gesagt, in Wirklichkeit sehe er ein bisschen besser aus“, erzählt Friedel mit einem Schmunzeln.

Die Autorin ist freie Journalistin  in Berlin.

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