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Kommunalpolitik : »Dichter am Bürger geht nicht«

In kleinen Gemeinden wie im mecklenburgischen Pokrent-Neuendorf geht nichts ohne Ehrenamtliche

07.03.2016
2023-08-30T12:29:57.7200Z
5 Min

Abends in der "Bauernstube" von Pokrent-Neuendorf beugen sich drei Männer über Flurkarten. Gehöfte und Siedlungen sind zu erkennen, Wald, Wiesen, Äcker in der hügeligen Endmoränenlandschaft im Nordwesten Mecklenburg-Vorpommerns. Die drei suchen einen Austragungsort für die Feuerwehrübung des Amtes Lützow-Lübstorf. Da braucht es Platz für Wettkämpfe und Schaulustige, wissen die Gemeindevertreter. Stefan Janssen (37), seit 2004 Gemeindevertreter und seit 2009 ehrenamtlicher Bürgermeister der 700-Einwohner-Gemeinde Pokrent-Neuendorf, zeigt auf einen winzigen Hügel: der "Sonnenberg". "Hier sollte mal eine Biogasanlage hin", erinnert er sich. Vor Jahren hatte sich die Gemeindevertretung gegen den Bau ausgesprochen. "Die Anlage hätte nicht ins Dorfbild gepasst", erklärt Claus Brügmann (49). Der Landwirt ist Janssens Stellvertreter und 2009 erstmals in die Gemeindevertretung gewählt worden. Der "Sonnenberg" kommt für die Übung doch nicht in Frage. Henry Meier, mit 36 Jahren der jüngste der neun Gemeindevertreter und Chef der Pokrenter Feuerwehr, hält aber eine Wiese am Dorfrand für geeignet.

Absprachen am Zaun Für die Besprechung haben sich die Männer kurz nach Feierabend getroffen. Beschlossen wurde nichts, doch der regelmäßige Kontakt ist den Ehrenamtlichen wichtig. Freizeit haben die Gemeindevertreter, acht Männer und eine Frau, herzlich wenig. Sie alle sind beruflich stark eingespannt, ob nun in der Landwirtschaft, diversen Verwaltungen, als Kfz-Meister, Tischler oder Tierparkmitarbeiter. Sie verbindet das Engagement für ihr Dorf. Als Mitglieder der "Freien Wählergemeinschaft Pokrent-Neuendorf" kandidierten sie für die Gemeindewahl, einige arbeiten bereits seit mehreren Legislaturperioden in der Kommunalvertretung. Mancher mag ein Parteibuch haben, das spiele aber keine Rolle, sagt Janssen. Hier seien konkrete Aufgaben zu lösen. "Die Unmittelbarkeit, die macht die Arbeit so interessant." Und dem Wähler sei allein wichtig, dass er seine Kandidaten kennt, ihnen vertraut, sich verstanden und gut vertreten fühlt. "Auf dem Dorf, da wählst du Personen, keine Parteien."

Die Geschicke des Dorfes mit seinen zwei Ortsteilen Pokrent und Neuendorf sowie den verstreuten Siedlungen Alt-Pokrent und Meierei werden nicht nur in den wenigen Sitzungen der Gemeindevertretung geregelt. Absprachen gebe es dauernd - mal am Gartenzaun, beim Grillen, per Telefon oder in den "Bürgermeister-Sprechstunden" zwei Mal im Monat. Einwohner kämen selten in sein winziges Büro neben der "Bauernstube", sagt Janssen. Stattdessen finde er immer ein paar Anrufe auf dem "AB" vor. Dauerbrenner sind nicht geleerte Mülltonnen, Schlaglöcher in der Dorfstraße oder der neue Windpark der nahegelegenen Gemeinde Schildetal, der mit seinen rot blinkenden Signallampen nachts den Pokrentern bis ins Wohnzimmer leuchtet. Auf den Standort der riesigen Windkraftanlage hatte die Pokrenter Gemeindevertretung keinen Einfluss, wie Janssen betont. Betroffene Orte hätten zwar ein Mitspracherecht. Genehmigungsbehörde aber sei das Staatliche Amt für Landwirtschaft und Umwelt, das Land also. Vom Bau der 13 Windtürme voriges Jahr allerdings profitierte Pokrent indirekt: Da die Schwerlasttransporte durchs Dorf führten, gab es "Wegepacht" zum Aufbessern der klammen Ortskasse. "Da mussten wir einfach zugreifen", meint Janssen.

Die Gemeindevertretung kommt nicht oft in der "Bauernstube" zusammen. Sitzungen finden nur alle zwei, drei Monate statt und auch nur, wenn es etwas zu beschließen gibt, die Erneuerung von Gehwegen etwa oder Grundstückskäufe. "Das Pensum ist überschaubar", findet Brügmann. Dafür gehe es nicht um "abstrakte Gesetze" wie im Landes- oder Bundesparlament. "Die gewählte Gemeindevertretung ist Teil der Exekutive, nicht der Legislative", erklärt Janssen. Und dennoch sei dieses Ehrenamt für ihn die unmittelbarste Form der Mitwirkung. Janssen ist wie etliche seiner Mitstreiter in Pokrent aufgewachsen, seine Eltern wohnen hier. Viele der Älteren drückten in jenem roten Backsteinhaus gegenüber der Kirche die Schulbank, das später Jugendklub und Schülerhort beherbergte, vor einigen Jahren mit EU-Mitteln renoviert wurde und in dem nun der Gemeinderaum untergebracht ist. Der zweifache Familienvater baut derzeit ein altes Wohnhaus im Ort aus. Auch wenn der Diplom-Verwaltungswirt zur Arbeit nach Schwerin fährt - leben wollte er immer nur auf dem Dorf. "Es ist die Verbundenheit mit dem Ort, aus dem du kommst", sagt Wehrleiter Meier. Viel Arbeit oder gar Ärger im Ehrenamt? "Ich sehe das eher als Geschenk an, wenn man gewählt wird", meint der gelernte Maurer. "Und ein bisschen stolz bin ich auch drauf, mitreden zu dürfen und Bescheid zu wissen, was im Dorf so vor sich geht. Mitmachen ist allemal besser als nur zu meckern."

»Neun Einzelmeinungen« Mitbestimmen tut auch Brügmann. Der gebürtige Schleswig-Holsteiner richtete 1991 im Ortsteil Neuendorf seinen Agrarbetrieb ein und zog 2003 der Arbeit hinterher. 2009 wurde er Gemeindevertreter. Anfangs habe er die Haushaltssituation der Kommune als frustrierend empfunden. "Ich dachte, der Laden ist pleite. Da merkt man plötzlich, dass man keinen Gestaltungsspielraum hat." Mittlerweile sehe er die Dinge etwas anders. "Man kann aus nichts ein bisschen mehr machen, wenn man nur will." Mitunter sei er auch "Kummerkasten", sagt Brügmann und sieht das auch positiv: "Dichter am Bürger geht einfach nicht." Und: "Wir sind ein gutes Team, kein wilder Haufen. Das hält mich bei der Stange." Dabei gebe es in der Gemeindevertretung keinen "Fraktionszwang", sondern neun Einzelmeinungen. Dazu brächten "sachkundige Bürger" Wissen und Erfahrungen in den Finanz- und den Bauausschuss ein. Die Debatten seien manchmal kontrovers, kämen aber dank guter Vorbereitung der Vertreter schnell auf den Punkt, meint Janssen. "Meistens werden wir uns rasch einig."

Für den wichtigsten Beschluss im Jahr, den zum Haushalt, plant Janssen im Frühjahr eine Gemeindevertretersitzung. Debatten oder gar Streit ums Geld dürfte es kaum geben, vermutet der Bürgermeister. "Da ist der Spielraum nicht so riesig." Der Etat beläuft sich dieses Jahr erneut auf rund 600.000 Euro. Die Hälfte geht gleich wieder weg für Kreis- und Amtsumlagen. Knapp ein Drittel der Gesamtsumme muss für Schule und Kindergarten berappt werden. Da bleibt am Ende kaum was übrig für freiwillige Leistungen. Nur minimal könnten Zuschüsse vergeben werden für Veranstaltungen. Eingespart wurde bereits die Straßenbeleuchtung bei Nacht, die Beteiligung am Bücherbus und die Trägerschaft der Kita, die jetzt von den Johannitern betrieben wird. "Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht und in den vergangenen Jahren teilweise unpopuläre Sparmaßnahmen durchgedrückt", erklärt Janssen. Sparsam wirtschaften auch die beiden freiwilligen Feuerwehren, eigentlich eine Pflichtaufgabe der Gemeinde. So wurde das Einsatzfahrzeug aus Spenden finanziert.

Auch an den Einnahmen lässt sich kaum drehen. Gewerbe-, Grund- und Hundesteuer fielen wenig ins Gewicht. Erfreulicherweise nehme der Einkommenssteuer-Anteil wieder zu, er mache dieses Jahr mit 230.000 Euro mehr als ein Drittel des Gemeindesäckels aus. Erstmals seit Jahren könne 2016 ein Überschuss von rund 70.000 Euro erwirtschaftet werden, meint Janssen. Mit dem Geld sollen größtenteils Fehlbeträge der letzten Jahre ausgeglichen werden. Eine Weichenstellung brachten die Gemeindevertreter im Januar auf den Weg - für ein schnelleres Internet. So bewirbt sich Pokrent-Neuendorf um Fördermittel für den Breitbandausbau. Bis 2018 soll die Übertragungsgeschwindigkeit von knapp 30 auf 50 Megabit pro Sekunde gesteigert werden.

Bislang behelfen sich Unternehmen in der unterversorgten Region mit Internet-Funklösungen, darunter Brügmann. "Das schnelle Internet wird uns kein Wirtschaftswunder bringen", sagt er. Doch es gehe um die Attraktivität des ländlichen Raums insgesamt. Angesichts des hohen Altersdurchschnitts auf den Dörfern könnten bald viele Häuser leer stehen, wenn das Leben auf dem Land für jüngere Leute und Familien nicht mehr verlockend erscheint. "Das ist ein Standortfaktor", sagt Brügmann.

Die Autorin ist freie Journalistin in Mecklenburg-Vorpommern.