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FLÜCHTLINGE I : Schaffen die Kommunen das?

Ob im dörflichen Heist oder in der Weltstadt Hamburg: Die Flüchtlingsaufnahme ist eine Herausforderung

07.03.2016
2023-08-30T12:29:57.7200Z
6 Min

Bürgerkriege, Terror, Armut: Laut Uno sind weltweit mehr als 60 Millionen Menschen auf der Flucht, so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Kamen 2014 etwa 218.000 Flüchtlinge nach Deutschland, waren es 2015 1,1 Millionen. 476.649 Asylanträge wurden gestellt, 206.000 allein im November. Ein Rekord, der sich überall im Land bemerkbar macht. Egal, ob in Hamburg oder in einer kleinen Gemeinde wie Heist, in Deutschland wurde die Flüchtlingskrise zur Verwaltungskrise: Datenerhebung, Antragsbearbeitung - und es fehlt an Unterkünften.

Heist im Kreis Pinneberg in Schleswig-Holstein. 20 Flüchtlinge leben hier derzeit. "Wir sind das letzte Glied in der Kette, die Pflicht zur Unterbringung liegt beim Amt", sagt Jürgen Neumann. Er ist Bürgermeister von Heist, ehrenamtlich. Dorforganisator, Ober-Hausmeister, Vermittler. "In die Verteilung mische ich mich nicht ein. Aber ich stehe in engem Kontakt zu den Ehrenamtlern, helfe wo ich kann", so Neumann. 20 Flüchtlinge sind nicht viel. Aber es gibt keinen Wohnraum mehr in der 3.000-Seelen-Gemeinde. Holzhäuser wurden aufgestellt, wie man sie aus Ferienorten kennt. "Wir haben jetzt Platz für 15 weitere Flüchtlinge und warten darauf, dass sie kommen", so Neumann. Für den Moment sei man der Zeit tatsächlich voraus.

Davon kann man ein paar Kilometer weiter in Hamburg nur träumen. Seit Sommer 2015 kamen hier jeden Monat rund 3.000 Flüchtlinge an, mehrere Hundert am Tag. Zahlen jenseits aller Prognosen. "Die Kollegen wussten morgens nicht, wo sie die Menschen am Abend unterbringen sollten", erklärt Anselm Sprandel, Flüchtlingskoordinator von Hamburg. Baumärkte, Parkplätze, leerstehende Hallen - überall wo Platz war, wurden Notunterkünfte eingerichtet. Um die Situation unter Kontrolle zu bringen, wurde in Hamburg der Koordinierungsstab ins Leben gerufen. Sprandel ist seit Oktober im Amt. Innen- und Sozialbehörde sollen so besser zusammenarbeiten. Es wurde personell aufgestockt, rund 80 Mitarbeiter sind nun für die Flüchtlinge zuständig. "Wir wollen dem Bedarf nicht länger hinterherrennen, sondern vorbereitet sein", betont Sprandel. Er rechnet auch 2016 mit 3.000 Flüchtlingen pro Monat. Es werden Unterkünfte für 40.000 Plätze geplant, auch um unzureichende Quartiere so schnell wie möglich zu ersetzen.

Etwa 36.000 Flüchtlinge leben derzeit in Hamburg, etwa zwei Prozent der 1,7 Millionen Einwohner. Als Stadtstaat ist die Hansestadt deutlich stärker belastet als Flächenstaaten wie Mecklenburg-Vorpommern. Entlastungsmöglichkeiten gibt es bislang noch nicht, auch wenn mit Schleswig-Holstein und Niedersachsen verhandelt wird. "Selbst wenn man geeignete Flächen findet, müssen viele Bedingungen erfüllt sein wie der rechtliche Rahmen, Brandschutz oder Sanitäranlagen, damit dort eine Unterkunft eingerichtet werden kann", sagt Sprandel. An Verteilungsgerechtigkeit sei im vergangenen Jahr nicht zu denken gewesen. "Jetzt wo wir personell besser aufgestellt sind, haben wir den Ehrgeiz, das Ungleichgewicht in den Bezirken auszugleichen", so Sprandel.

Knapp 40 Erstaufnahmeeinrichtungen und mehr als 90 Folgeeinrichtungen gibt es derzeit in Hamburg. Die größte Unterkunft hat bis zu 2000 Plätze. Probleme unter den Bewohnern gäbe es vor allem da, wo kaum Privatsphäre vorhanden sei - gerade in den Erstaufnahmeeinrichtungen. "Man mutet den Menschen mehr zu, weil man weiß, dass es nicht für lange ist." Nach sechs Monaten haben die Flüchtlinge Anspruch auf einen Platz in einer Folgeunterkunft. Wie lange sie, wenn ihr Asylantrag bewilligt ist, dort bleiben, hängt davon ab, wie schnell sie eine Wohnung finden. Einige bleiben nur ein paar Monate, andere Jahre. Auch in den Folgeunterkünften leben zum Teil mehrere Hundert Menschen.

Im Amt Moorrege, dem Amtsbereich, in dem Heist liegt, sieht das anders aus. 320 Flüchtlinge leben hier, dafür wurden 56 Immobilien angemietet. "Zehn bis zwölf Flüchtlinge an einem Ort sind die Schmerzgrenze", sagt Amtsdirektor Rainer Jürgensen. Das macht das Zusammenleben für die Bewohner und auch für die Anwohner einfacher. "Eine syrische Familie im Nachbargarten finden die meisten nett, bei viel mehr Menschen, sieht das anders aus", betont er. Doch auch für Jürgensen ist die Unterbringung ein Problem. "Wenn es so bleibt, dann komme ich bald an meine Grenzen."

Ehrenamtliche Helfer Das überhaupt alles so gut klappt, liegt an dem großen Einsatz der vielen Helfer. Hauptamtliche wie in Hamburg gibt es hier kaum. Und auch in der Hansestadt, würden die hauptamtlichen Mitarbeiter nicht reichen. "Ganz ehrlich: In den Hochzeiten im Herbst hätten wir gar nicht gut ausgesehen, wenn wir nicht die Ehrenamtlichen gehabt hätten", betont der Hamburger Flüchtlingskoordinator. Sein Stab bemüht sich, die gut eingespielte Unterstützerstruktur weiter zu verbessern, bringt Freiwillige und Initiativen zusammen. Das Ehrenamt gehört zu den überraschend positiven Erlebnissen. Es ist kein Strohfeuer, die Hilfsbereitschaft hält an. Die vielen Helfer machen es noch menschlicher", sagt Sprandel. Mehr als 3000 ehrenamtliche Helfer gibt es Schätzungen zufolge derzeit in Hamburg. Der Verein "Hanseatic Help" betreibt eine der wichtigsten Kleiderkammern Hamburgs, die als größte Deutschlands gilt.

Kooperation In den Erstaufnahmen werden die Flüchtlinge verpflegt und bekommen Taschengeld. In Hamburg werden von den 145 Euro 29 Euro für eine Karte des Öffentlichen Personennahverkehrs abgezogen. Gerade hat der Bundestag das Asylpaket II beschlossen, danach werden weitere zehn Euro vom Taschengeld abgezogen, als Eigenanteil, wenn es Zugang zu Integrationskursen gibt. In den Folgeunterkünften verpflegen sich die Menschen selbst, nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gilt ein Anspruch von 219 Euro pro Erwachsenem, von denen beispielsweise Lebensmittel und Kleidung gekauft werden müssen. Neben Integrationskursen und Sprachkursen versucht man in Hamburg, die Situation mit Kooperationen zu verbessern. Wie mit dem Programm W.I.R. - Work an Integration for Refugees. Dabei werden Kompetenzen und Lebensläufe erfasst, um die Flüchtlinge bestmöglich zu vermitteln - in Sprachkurse, Ausbildungsstellen, Praktika, Jobs. "Wenn es gut läuft, haben wir alle gesamtgesellschaftlich etwas davon", sagt Sprandel. Unterbringung, Akzeptanz in der Bevölkerung und Integration sind die großen Themen in der Flüchtlingskrise. Was funktioniert, können die Kommunen nur im laufenden Betrieb herausfinden und nachsteuern.

Seit 2016 zahlt der Bund 670 Euro pro Flüchtling im Monat an die Länder. Die sollen den Kommunen die Ausgaben für die Flüchtlinge erstatten. "Für den Haushalt ist das trotzdem Wahnsinn, 30 Prozent der Kosten bleiben bei mir", sagt Moorreges Amtsdirektor Rainer Jürgensen. Er betont: "Solange in Berlin jemand steht und sagt, wir schaffen das, muss ich das möglich machen. Auf Dauer schaffen wir das aber nicht." Bundeskanzlerin Angela Merkel habe das Problem nicht. "Es wird weitergereicht und den letzten beißen die Hunde", sagt er. Noch ist die Stimmung im Amt Moorrege gut, doch Jürgensen weiß um die Sensibilität. Die Verwaltung muss weiter normal funktionieren: "Es darf nicht der Eindruck entstehen, als ginge es nur um Flüchtlinge, dann wird das zum Problem."

In Heist echauffierten sich die Nachbarn der Holzhäuser zunächst, doch es wurde mit Aufklärung gegengesteuert. Zum letzten Feuerwehrball wurden die Flüchtlinge eingeladen. "Wir haben den Bürgern gesagt, sie sollen ihre neuen Nachbarn einfach mal kennenlernen. Das ist der Vorteil im Dorf, es bleibt nicht anonym", sagt Bürgermeister Neumann.

Der Hamburger Flüchtlingskoordinator weiß ebenfalls um das Problem der Akzeptanz. 15 Übergriffe auf Unterkünfte registrierte die Polizei 2015. Wenige, verglichen mit anderen Teilen Deutschlands, auch Brandanschläge gab es keine. "Wir müssen uns die öffentliche Meinung weitgehend gewogen halten, um Fremdenfeindlichkeit und Gewalt zu verhindern. Wir besuchen Infoveranstaltungen, beantworten Bürgeranfragen", sagt Sprandel. Widerstände gegen Flüchtlingsunterkünfte wie im Nobelviertel Harvestehude seien legitim - solange es einen Diskurs gibt. Doch Sprandel kennt auch hämische und verachtende Äußerungen gegenüber der Verwaltung: "In manchen Meinungsäußerungen herrscht ein Ton, der mir Angst macht." Mirjam Rüscher

Die Autorin ist freie Journalis in in Hamburg