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EUROPA : Kein sicherer Drittstaat?

EU-Abgeordnete kritisieren das Abkommen mit der Türkei - und Präsident Erdogans Vorgehen gegen den Satiriker Jan Böhmermann

18.04.2016
2023-08-30T12:29:59.7200Z
3 Min

Das Europäische Parlament (EP) setzt sich mit großer Mehrheit für einen europäischen Ansatz in der Flüchtlingspolitik ein. Die Abgeordneten sprachen sich in der vergangenen Woche in Straßburg für eine Reform des bisherigen Dublin-Systems aus, die einen zentralen Verteilungsmechanismus und nationale Aufnahmequoten beinhalten soll. Zugleich kritisierten sie das am 20. März in Kraft getretene EU-Türkei-Abkommen.

Der Initiativbericht des Europäischen Parlaments zur Asylpolitik ist zwar rechtlich nicht bindend. Er belegt aber, dass unter den Abgeordneten der Wille zu einer europäischen Lösung in der Flüchtlingskrise deutlich größer ist als unter den Mitgliedstaaten. Anfang April hatte die EU-Kommission Vorschläge für eine Reform des Dublin-Systems gemacht. Einige osteuropäische Mitgliedstaaten erklärten daraufhin postwendend, dass sie eine Flüchtlingspolitik weiterhin strikt ablehnen, die ihnen die Kontrolle über den Zustrom an Flüchtlingen entzieht.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat nun in Straßburg angekündigt, im Mai einen konkreten Gesetzesvorschlag zur Überarbeitung des Dublin-Systems vorlegen zu wollen. Die Reform solle sicherstellen, dass Asylverfahren in allen Mitgliedstaaten nach einem einheitlichen Muster ablaufen.

Noch ist nicht abzusehen, wie die Blockade zahlreicher Länder gegen eine Lastenteilung überwunden werden kann. Für Juncker aber ist klar: "Die geographische Lage eines Staates darf nicht entscheiden, welcher Anteil an Arbeit ihm zukommt."

Er betonte vor dem Parlament zudem, dass das Abkommen zwischen der EU und der Türkei die erhoffte Wirkung zeige und die Flüchtlingsströme in Richtung Europa senke. Seit dem ersten Anwendungstag, dem 4. April, seien 325 irreguläre Flüchtlinge in die Türkei zurückgekehrt und im Gegenzug 79 Syrer in einen EU-Staat ausgereist.

EU-Ratspräsident Donald Tusk nannte Zahlen, die für einen Abschreckungseffekt sprechen. Während im März auf der Ägäis-Route 30.000 Menschen unterwegs gewesen seien, hätten im April erst tausend Menschen Europa erreicht. Allerdings zeigte sich Tusk besorgt über Anzeichen für eine Verlagerung der Migrationsströme. "Die Zahl der potenziellen Migranten in Libyen ist alarmierend", sagt er. So seien seit Januar 20.000 Flüchtlinge aus Nordafrika nach Italien gekommen.

Sorge um Sicherheit Zahlreiche Abgeordnete bezweifelten die Vereinbarkeit des EU-Türkei-Abkommens mit internationalem Recht. "Was bedeutet ,vorübergehender Schutz' wenn zahlreiche Berichte besagen, dass die Türkei Flüchtlinge zurück nach Syrien drängt?", fragte etwa der Vorsitzende der Liberalen im Europäischen Parlament, Guy Verhofstadt. Auch für Birgit Sippel (SPD) deuten Berichte von Amnesty International darauf hin, dass die Türkei kein sicherer Drittstaat ist. Ernsthaft zu sagen, dass die syrischen Flüchtlinge in der Türkei alle sicher seien, bezeichnete sie als "zynisch". Sollte es sich im rechtlichen Sinn um ein internationales Abkommen handeln, müsste das Europäische Parlament ihm zudem zustimmen, forderte Sippel. "In jedem Fall müsste das Parlament viel stärker in die demokratische Kontrolle eingebunden sein."

Herbert Reul (CDU) lobte die Vereinbarung mit der Türkei hingegen als pragmatische Maßnahme: "Sie ist ein erster Schritt, der offenbar funktioniert und zeigt, dass man die Flüchtlingskrise Schritt für Schritt in den Griff bekommen kann." Juncker stellte heraus, dass der Deal das Geschäft der Schlepper stoppe, das er für 2015 auf drei bis sechs Milliarden Euro bezifferte.

Guy Verhofstadt kritisierte allerdings, dass sich die Mitgliedstaaten viel zu wenig engagierten, um die griechische Außengrenze zu sichern. "Die Kommission hat 400 Übersetzer angefragt, aber nur 37 wurden entsandt. 472 Immigrationsexperten wurden angefragt und 31 entsandt. Und nur 339 der 150 Sicherheitsexperten wurden von den Mitgliedstaaten bereitgestellt."

Streit um Böhmermann Auf einhellige Kritik stieß in der Debatte das Vorgehen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gegen den Satiriker Jan Böhmermann, der in seiner ZDF-Sendung ein zuvor als "Schmähkritik" angekündigtes Gedicht über den Präsidenten vorgetragen hatte. Erdogan stellte daraufhin nicht nur einen persönlichen Strafantrag gegen Böhmermann, sondern verlangte von der Bundesregierung auch eine Ermächtigung der Staatsanwaltschaft, damit diese wegen Beleidigung eines Staatsoberhauptes nach Paragraf 103 des Strafgesetzbuches ermitteln kann. Im EP bezeichnete Juncker Böhmermanns Beitrag zwar als "unmöglich", stellte jedoch klar, dass die Haltung der EU ungeachtet des Abkommens mit der Türkei unverändert sei, wenn es um Grundwerte wie die Pressefreiheit gehe. Der Vorsitzende der konservativen EVP-Fraktion, Manfred Weber (CSU), verlangte von der Regierung in Ankara, die Meinungsfreiheit in Europa zu respektieren.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat der türkischen Forderung jedoch inzwischen stattgegeben. In einem Pressestatement kündigte sie am vergangenen Freitag jedoch an, den Paragrafen 103 bis 2018 abschaffen zu wollen.

Die Autorin ist Korrespondentin der "Wirtschaftswoche" in Brüssel.