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GESUNDHEIT I : Das Tarngesetz

Eine harmlos klingende EU-Vorlage sorgt mit einiger Verspätung für Aufruhr in der Koalition

13.06.2016
2023-08-30T12:30:02.7200Z
4 Min

Das geplante Gesetz zur Reform der Arzneimittelstudien sollte eigentlich am vergangenen Donnerstag die letzte parlamentarische Hürde nehmen. Schon der angekündigte Ablauf vermittelte Routine: 20.25 Uhr, Tagesordnungspunkt 18, Redezeit 25 Minuten. Dann die überraschende Wende. Nach der Beratung der Parlamentarischen Geschäftsführer am Dienstag heißt es knapp: "TOP 18 wird abgesetzt". Spätestens jetzt war das kein guter Tag für Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU), der den Entwurf vehement verteidigt und der Koalition zuletzt einen Kompromiss vorgeschlagen hatte, um die Vorlage doch noch zu retten. Das gelang aber nicht, zu tief sind offenbar die Gräben zwischen Befürwortern und Gegnern der Novelle. Und jetzt? Es wird weiter beraten in Koalition und Opposition - mit offenem Ausgang. Wann und mit welchem Inhalt der 60 Seiten starke Gesetzentwurf mit dem wenig erhellenden Titel "Viertes Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften" wieder aufgelegt wird, ist unklar.

Brisanz unterschätzt Offenbar ist die Brisanz des Gesetzentwurfs (18/8034) erst mit einiger Verspätung im Parlament und auch in der Öffentlichkeit so richtig angekommen. Die "Süddeutsche Zeitung" mutmaßte, es habe womöglich am Namen des Gesetzes gelegen, "dass eine größere Öffentlichkeit erst einmal kaum Notiz von dem Entwurf genommen hat". Außerdem behandelt der Entwurf im Wesentlichen die Umsetzung einer EU-Verordnung (Nr. 536/2014), was üblicherweise auch niemanden aus dem Schlaf hochschrecken lässt. Tatsächlich wussten wohl nur wenige Experten, wie weitreichend die von deutscher Seite ergänzte EU-Novelle ist und wie tief sie hineinreicht in komplexe ethische Fragestellungen, die normalerweise, wie etwa im Fall der Sterbehilfediskussion, in der Öffentlichkeit und im Bundestag ausführlich und unter Verzicht auf die erprobten Fraktionsrituale behandelt werden.

Es könne nicht sein, dass eine so wichtige Frage unter Ausschluss der Öffentlichkeit diskutiert werde, beklagte denn auch der ehemalige Behindertenbeauftragte der Bundesregierung und Fachmann für medizinethische Fragen, Hubert Hüppe (CDU), im "Tagesspiegel" und fügte hinzu: "Und dass man in 30 Minuten ein Tabu bricht, das 75 Jahre gehalten hat."

Heftig umstritten sind in dem mit Regelungen aus ganz unterschiedlichen Bereichen vollgestopften Gesetz vor allem zwei Änderungen. So werden die Möglichkeiten für Arzneimittelstudien an Menschen erweitert und zugleich die Kompetenzen der Ethikkommissionen, die zu jeder klinischen Studie ihr entscheidendes Placet geben müssen, eingeschränkt, wogegen auch der Bundesrat protestiert hatte.

Demenzforschung Es waren dann vor allem die beiden großen Kirchen und die Behindertenverbände, die Alarm schlugen, weil im Entwurf vorgesehen ist, dass klinische Arzneimittelstudien an nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen auch dann zulässig sein sollen, wenn sie nur gruppennützig sind, also den Betroffenen selbst nicht mehr helfen können. Die Regelung setzt voraus, dass der Betreffende, als er noch einwilligungsfähig war, eine entsprechende Patientenverfügung aufgesetzt hat. Von dem Verfahren profitieren soll vor allem die Demenzforschung, was nach Ansicht renommierter Ärzte und Wissenschaftler sehr sinnvoll ist, weil die Wirkung mancher Mittel eben nur am akuten Fall erprobt werden kann. Auch Bundesforschungsministerin Johanna Wanka (CDU) vertritt vehement diese Auffassung. Die Kirchen erklärten die fragliche Änderung bei einer Anhörung zu dem Gesetzentwurf am 9. Mai jedoch hinsichtlich der unveräußerlichen Würde des Menschen und des Rechts auf körperliche Unversehrtheit für problematisch. Sie rügten unmissverständlich die "Verzweckung des Menschen". Es sei auch nicht ersichtlich, weshalb überhaupt ein Bedarf an dieser speziellen Personengruppe angenommen werde, zumal es sich um eine besonders schutzbedürftige Gruppe handele, die schwerwiegenden Gefahren und Missbrauchsrisiken ausgesetzt wäre, würde die klinische Prüfung an ihnen zugelassen. Unerwarteten Beistand erhielten die Kirchen vom Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (VfA), der verlauten ließ, es gebe keine Notwendigkeit für eine Gesetzesänderung. Die klinischen Studien zur Entwicklung von Medikamenten für Demenzpatienten seien so konzipiert, dass die Teilnehmer einen individuellen Nutzen davon hätten.

Der Pflege- und Patientenbeauftragte Karl-Josef Laumann (CDU) erwiderte im Deutschlandfunk, er verlasse sich in dieser Frage lieber auf die Universitätskliniken und die sähen die Notwendigkeit großer klinischer Studien. Auch wenn Patienten selbst keinen Nutzen von den Untersuchungen mehr hätten, so könne die Forschung doch dazu beitragen, dass nachfolgende Generationen auch in der eigenen Familie profitierten. Was die künftige Rolle der Ethikkommissionen angehe, fügte Laumann hinzu: "Darüber kann man ja auch noch mal reden." Minister Gröhe bemüht sich derweil weiter um Kompromisslinien und warnte in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ) schon mal vorsichtshalber vor den Folgen einer Totalblockade, weil dann die "viel weitreichendere Regelung der EU" unmittelbar gelten würde. Der vorliegende Gesetzentwurf schütze die Rechte der Patienten deutlich stärker als die EU-Verordnung. Sein Vorschlag, die Patientenverfügung an eine verpflichtende ärztliche Aufklärung zu binden, ist bei der SPD jedoch auf Kritik gestoßen. Hilde Mattheis sieht darin eine Entwertung des Patientenwillens. Rudolf Henke (CDU) brachte daraufhin laut FAZ eine "Probandenbescheinigung" ins Spiel, um die Einwilligung von der Patientenverfügung zu entkoppeln.

Nicht nur die Fronten sind verhärtet, auch der Frontverlauf ist unübersichtlich. Klar scheint, das Thema soll im Parlament prominenter verhandelt werden und nicht im Schutz der Abendstunden. Kordula Schulz-Asche (Grüne) mahnte, die hohen deutschen Schutzstandards dürften nicht verwässert werden. Kathrin Vogler (Linke) stellte schon einmal klar, die geplante "Schwächung der Rolle der Ethikkommissionen und die Aufweichung des Probandenschutzes bei Arzneimitteltests" seien nicht hinnehmbar. Wenn es mit der Vorlage nun ein paar Wochen länger dauere, "schadet das nichts".