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Olympia : Schatten im Sportsommer

Der Spitzensport bietet Identifikationspotenzial, wirft aber auch sehr kritische Fragen auf

25.07.2016
2023-08-30T12:30:05.7200Z
4 Min

Spitzensportanhänger kommen in diesem Sommer einmal mehr auf ihre Kosten. Tennis in Wimbledon, Radsport bei der Tour de France, Leichtathletik-Europameisterschaften in Amsterdam und die Fußball-Europameisterschaft in Frankreich. Das weltweit größte Sportereignis folgt in wenigen Tagen: Am 5. August werden die Olympischen Spiele von Rio der Janeiro eröffnet, als "Megaevent" locken die Spiele nicht nur alle vier Jahre Zehntausende Menschen in die Stadien und Milliarden an die Bildschirme.

Die mit der Gründung des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) 1894 von Pierre de Coubertin ins Leben gerufene Bewegung schreibt dem Sport darüber hinaus auch eine besondere Sinngebung zu. So heißt es in der Olympischen Charta: "Der Olympismus ist eine Lebensphilosophie, die in ausgewogener Ganzheit die Eigenschaften von Körper, Wille und Geist miteinander vereint und überhöht. Durch die Verbindung des Sports mit Kultur und Bildung sucht der Olympismus, einen Lebensstil zu schaffen, der auf der Freude an Leistung, auf dem erzieherischen Wert des guten Beispiels, der gesellschaftlichen Verantwortlichkeit sowie auf der Achtung universell gültiger fundamentaler moralischer Prinzipien aufbaut." (Fassung vom 9. September 2013) Getreu dem olympischen Wahlspruch "Citius, altius, fortius" (schneller, höher, stärker/weiter) werden auch in Rio mehr als 10.000 Athleten Höchstleistungen erbringen, mehr als 300 Medaillenentscheidungen stehen auf dem Programm. Nicht zu vergessen die Auftritte von Spitzensportlern mit Behinderung bei den Paralympics im September.

Kritische Bevölkerung Spannende, faire Wettkämpfe und imposante Leistungen, eingebettet in einen festlichen Rahmen: ungetrübte Freude also im Sportsommer 2016? Wohl kaum. Meldungen über das Zika-Virus, die politische und wirtschaftliche Krise in Brasilien, ökologische Probleme und Sicherheitsrisiken in Rio de Janeiro gehören seit Monaten zur vorolympischen Krisenberichterstattung. Proteste von Teilen der Bevölkerung gegen Olympiabauten zeigen zudem, dass die Ausrichtung Olympischer Spiele keineswegs nur auf Zustimmung trifft - die deutschen Olympiabefürworter werden sich leidvoll an die kürzlich gescheiterten Bewerbungsinitiativen in München und Hamburg erinnern, womit letztlich auch der Politik ein Strich durch die Rechnung gemacht wurde.

Auch in anderen Ländern haben sich Menschen in den vergangenen Jahren mehrheitlich gegen eine Olympiabewerbung ausgesprochen, das IOC mit seinem Präsidenten Thomas Bach an der Spitze hat auf diese Entwicklungen im Dezember 2014 mit einem 40 Punkte umfassenden Reformpaket reagiert. Die "Olympic Agenda 2020" will dem Gigantismus nun Einhalt gebieten, sie hat die Reduzierung der Bewerbungskosten sowie eine flexiblere, nachhaltigere, bescheidenere und kostengünstigere Ausrichtung kommender Spiele zum Ziel und soll auf diese Weise deren Zukunft sichern. Aktuell sieht sich die Olympische Bewegung aber noch mit anderen Herausforderungen konfrontiert: Bestechungsvorwürfe in Zusammenhang mit der Vergabe der Olympischen Spiele 2020 an Tokio, Enthüllungen über jahrelange staatlich glenkte Dopingpraktiken in Russland und positive Nachkontrollen von Dopingproben der Olympischen Spiele 2008 in Peking - all dies zeigt, dass die in der Charta postulierte "Achtung universell gültiger fundamentaler moralischer Prinzipien" keine Selbstverständlichkeit im Leistungssport darstellt.

Alle Verfehlungen pauschal mit der Kommerzialisierung des Sports und damit einhergehenden Verlockungen des Geldes zu begründen, würde aber sicher zu kurz greifen. Zwar hat das IOC, das ursprünglich vehement das Amateurideal vertrat, bereits 1981 einen Paradigmenwechsel herbeigeführt, als es im Zuge des in Baden-Baden abgehaltenen Olympischen Kongresses beschloss, sich dem Profisport zu öffnen und als Eigentümer der Olympischen Spiele diese fortan zu vermarkten. Die Frage nach lukrativen Verdienstmöglichkeiten dürfte allerdings ein Großteil der Olympiateilnehmer, nicht nur die Synchronschwimmerinnen, Bogenschützen oder Modernen Fünfkämpfer, mit einem Kopfschütteln beantworten und stattdessen auf Leistungsbereitschaft und Zielstrebigkeit verweisen.

Fair - insbesondere dopingfrei - ausgeübter Leistungssport als Träger eines Werts des guten Beispiels? Das in Deutschland für den Sport zuständige Bundesinnenministerium bejaht dies und begründet die staatliche Spitzensportförderung mit den Worten: "Leistung und Auftreten deutscher Spitzensportlerinnen und -sportler tragen zum Ansehen Deutschlands in aller Welt bei. Darüber hinaus motivieren sie junge und alte, behinderte und nicht behinderte Menschen, ihnen nachzueifern." Die Politik schreibt dem Leistungssport also nicht nur eine positive Vorbildwirkung nach innen zu, sondern sieht in den Athleten auch wichtige Repräsentanten Deutschlands. Im Zeitalter des Kalten Krieges wurden olympische Medaillenerfolge von Ost und West meist auch im Kontext eines "Wettstreits der Systeme" gesehen, der Aspekt der "nationalen Repräsentation" im und durch Sport ist aber immer noch aktuell. So wird der Medaillenspiegel der Nationen bei Olympischen Spielen als Beleg für Leistungsstärke - oder vermeintliches Versagen - herangezogen. In IOC-Quellen findet sich der Medaillenspiegel nicht, im Zentrum steht die individuelle Selbstvervollkommnung des Athleten, nicht die Nation. Gleichwohl ist der Blick auf das Medaillenergebnis aus der Realität des Leistungssports wie auch aus der politischen Bilanz kaum mehr wegzudenken.

Auch die Realität des dramatischen Weltgeschehens - laut UN-Flüchtlingshilfswerk sind derzeit mehr als 65 Millionen Menschen auf der Flucht - wird sich auf leistungssportlicher Ebene spiegeln: Erstmals wird eine Flüchtlingsmannschaft an Olympischen Spielen teilnehmen. Die zehn Mitglieder des vom IOC geschaffenen "Refugee Olympic Team" werden in den Sportarten Judo, Schwimmen und Leichtathletik antreten - "schneller, höher, weiter" als Symbol der Hoffnung für Menschen, die alles verloren haben.

Der Autor ist Historiker am Institut für Sportgeschichte der Deutschen Sporthochschule Köln.