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NUKLEARTERRORISMUS : Angst vor der schmutzigen Bombe

Die Sorge vor Anschlägen mit radioaktivem Material wächst - realistische Gefahr oder Hysterie?

15.08.2016
2023-08-30T12:30:05.7200Z
4 Min

Ein Terroranschlag auf ein Atomkraftwerk oder eine "schmutzige Bombe" in der Fußgängerzone - das sind Schreckensszenarien, die Sicherheitsexperten nicht erst seit den jüngsten islamistischen Terrorakten in Europa Kopfzerbrechen bereiten. "Kein Zweifel: Wenn diese Verrückten dieses Material in die Hände kriegten, würden sie so viele Menschen töten wie möglich", warnte US-Präsident Barack Obama erst im April beim internationalen Nukleargipfel in Washington, wo das Thema "nukleare Sicherheit" ganz oben auf der Agenda stand. Die rund 50 Teilnehmerstaaten waren sich dort einig, dass mehr getan werden muss, "um nichtstaatliche Akteure davon abzuhalten, atomares oder anderes radioaktives Material zu bekommen, das für bösartige Zwecke benutzt werden könnte".

Für den Physiker Tom Bielefeld sind solche Szenarien "reale Risiken". Spaltbares Material, dass sich zum Bau von Atomwaffen eignet, sowie kerntechnische Anlagen und radioaktive Stoffe aus Industrie und Medizin seien "nach wie vor mögliche Ziele von Terroristen und Kriminellen", warnt er. Doch wie will man verhindern, dass Terroristen an die gefährlichen Substanzen gelangen? Allein in Europa sind derzeit 129 Atomanlagen in Betrieb. Jahr für Jahr wird tonnenweise radioaktives Material quer durch Europa transportiert, in vielen Kliniken und Forschungseinrichtungen wird mit den Stoffen gearbeitet. Experten zufolge ist es aber vor allem in den Kriegsgebieten im Nahen Osten nicht schwer, an spaltfähige Materialien heranzukommen. Erst im vergangenen Jahr wurde radioaktives Iridium-192 vom Gelände einer US-Ölfirma nahe der irakischen Stadt Basra gestohlen - bis heute weiß niemand von wem und wohin es verschwunden ist.

Dass Terroristen sich für die Substanzen interessieren, ist nicht neu. 1995 deponierten tschetschenische Attentäter in Moskau eine Bombe mit radioaktivem Cäsium, sie wurde allerdings nicht gezündet. Der mutmaßliche Chefplaner der Terroranschläge vom 11. September 2001, Khalid Sheikh Mohammed, drohte Geheimdienstunterlagen zufolge einen "atomaren Höllensturm" an, sollte Al-Quaida-Chef Osama Bin Laden gefangen genommen werden. Und im Dezember 2015 fanden belgische Ermittler bei einer Hausdurchsuchung Aufnahmen einer Überwachungskamera, die das Wohnhaus eines renommierten Kernforschers zeigten - installiert offenbar von den Brüdern El Bakraoui, die unter den Brüsseler Attentätern vom März 2016 waren. Vermutet wird, dass die Terroristen den Mann entführen und so Zugang zu radioaktivem Material erpressen wollten. Oliver Meier, Sicherheitsexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), sieht trotz solcher Meldungen aber "keine akute Gefahr", dass Terroristen in Europa an atomwaffenfähiges Material gelangen könnten, da hier "sehr hohe Sicherheitsanforderungen" herrschten. Und selbst wenn, "wäre die Herstellung einer Atomwaffe mit erheblichen Anstrengungen und besonderen technischen Fähigkeiten verbunden", sagt er. Größer schätzt Meier schon die Gefahr ein, dass Terroristen eine schmutzige Bombe einsetzen könnten; die technischen und logistischen Anforderungen hierfür seien deutlich geringer. Bei einer solchen Waffe wird radioaktives Material in der Umgebung verbreitet - neben den Opfern der Explosion, wäre eine Evakuierung des betroffenen Gebietes notwendig, die Zahl der Krebsfälle würde steigen.

Für den Terrorismusexperten Rolf Tophoven würde allein die Drohung mit einer schmutzigen Bombe reichen, "um große Angst und Hysterie zu verbreiten". Allerdings werde die Gefahr zum Teil sehr dramatisiert, findet er. "Der Terrorist von heute arbeitet mit Sprengstoffwesten, Schusswaffen, ferngezündeten Bomben. Er braucht den atomaren Super-Gau nicht, um Menschen massenhaft zu töten." Dass dies aber "eine Option für den Terrorismus von morgen oder übermorgen" ist, mag Tophoven nicht ausschließen.

»Umfassender Schutz« In Deutschland, das versichert eine Sprecherin des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB), seien die Atommeiler "umffassend" gegen Terroranschläge, wie gezielte Flugzeugabstürze, Hackerangriffe und Manipulationen durch so genannte Innentäter, geschützt. Mitarbeiter würden vor Beginn ihrer Tätigkeit und im Einzelfall wiederholt genau untersucht, Sicherungsmaßnahmen "regelmäßig auf Aktualität geprüft und gegebenfalls angepasst". So würden derzeit die Schutzmaßnahmen aller Zwischenlager für abgebrannte Brennelemente "umfangreich nachgerüstet". Genaueres erfährt die Öffentlichkeit jedoch nicht, um potenziellen Tätern nicht in die Hände zu spielen.

Bekannt ist, dass an Grenzen, Flughäfen und Häfen Detektoren den Schmuggel von radioaktivem Material verhindern sollen. Zudem wurden Atomkraftwerke mit einer Vernebelungstechnik ausgestattet, um potenziellen Attentätern im Falle eines Flugzeugangriffs die Orientierung zu nehmen. Allerdings ist der gezielte Absturz einer Passagiermaschine auf ein Atomkraftwerk offenbar gar nicht so einfach, wie viele befürchten: Um eine Kernschmelze auszulösen, müssten schon zwei Jumbojets in einem ganz bestimmten Winkel auf das Kraftwerk stürzen, erklärt ein Insider, der anonym bleiben will.

»Große Fortschritte« SWP-Experte Oliver Meier betont, dass die Weltgemeinschaft seit 2001 "große Fortschritte bei der Kontrolle radioaktiver Substanzen" gemacht habe. Besonders die USA hätten "viel Geld, Technologie und politisches Kapital investiert, um spaltbares atomwaffenfähiges Material aus bestimmten Regionen - etwa Ländern in Zentralasien und Osteuropa - zu entfernen". Nun müsse die Aufmerksamkeit für das Problem aber weiter hoch gehalten werden.

Konkret schlägt Meier vor, die verschiedenen Ansätze zur nuklearen Sicherheit bei der Internationalen Atomenenergie-Organisation (IAEO, siehe Text rechts) zu bündeln. "Die IAEO unternimmt ohnehin schon viel, um die Sicherheit von nuklearen Einrichtungen und Materialien zu verbessern", sagt er. Für Kernkraftgegner gibt es jedoch nur eine Lösung, um solcherart Terror in Zukunft zu verhindern: den globalen Atomausstieg.