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Katastrophenschutz : Warnung aufs Handy

Nach dem Reaktorunfall in Fukushima wurden in Deutschland die Krisenpläne angepasst. Es hapert aber noch bei der Umsetzung

15.08.2016
2023-08-30T12:30:05.7200Z
6 Min

Von Fukushima liegt Aachen gut 9.200 Kilometer entfernt. Trotzdem sind die Auswirkungen des Atomunfalls, der sich am 11. März 2011 im japanischen Atomkraftwerk ereignete, bis in die nordrhein-westfälische Großstadt zu spüren. Denn als Folge der Kernschmelze in Fukushima müssen in Deutschland die Katastrophenschutzpläne angepasst werden. In Aachen haben die Stadt und die umliegenden Kreise und Gemeinden im vergangenen Dezember eine gemeinsame Notfallübung abgehalten, um die Abläufe zu testen. "Ausgegangen sind wir von einem Störfall im belgischen Atomkraftwerk Tihange, der als kleines Problem beginnt und sich dann bis zur höchsten Gefahrstufe steigert", berichtet Oberbürgermeister Marcel Philipp (CDU). "Im Grundsatz ist alles gut gelaufen, doch an einigen Stellen müssen wir noch nachjustieren." So habe sich gezeigt, dass die Verteilung von Jodtabletten stärker dezentralisiert werden sollte. Vor Fukushima hatte Aachen mit atomarer Notfallplanung nichts zu tun, denn der Reaktor in Tihange liegt 60 Kilometer entfernt. Eine Evakuierung oder die Empfehlung, sich in geschlossenen Gebäuden aufzuhalten, war vor 2011 nur im Umkreis von bis zu zehn Kilometern um ein havariertes Atomkraftwerk vorgesehen, die flächendeckende Einnahme von Jodtabletten nur bis zu einer Entfernung von 25 Kilometern.

Alarmierende Ergebnisse Doch der Atomunfall in Japan zeigte, dass diese Annahmen unrealistisch sind. Denn im Vergleich zum Unfall 1986 im ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl, an dem sich die Planungen bis dahin orientierten, trat in Fukushima zwar eine geringere Menge Radioaktivität aus, dafür aber über einen deutlich längeren Zeitraum. Wolfram König, Präsident des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS) sagt: "Ich habe unmittelbar nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima angeordnet zu überprüfen, welche Auswirkungen ein Unfall mit einem ähnlichen Verlauf in Deutschland haben könnte." Die Ergebnisse waren alarmierend: Auch 20 Kilometer vom Unfallort entfernt, so zeigte die Simulation, kann eine Evakuierung notwendig sein, der Aufenthalt in Gebäuden und die flächendeckende Jod-Einnahme sogar in bis zu 100 Kilometern Entfernung.

Das Szenario des Bundesamtes lag bereits ein halbes Jahr nach Fukushima vor, doch bis diese neuen Erkenntnisse wenigstens auf dem Papier Konsequenzen hatten, verging viel Zeit: Erst zweieinhalb Jahre später legte die vom Bundesumweltministerium eingesetzte Strahlenschutzkommission die Radien neu fest, in denen nach einem Atomunfall Katastrophenschutz-Maßnahmen greifen, ein weiteres Jahr später wurden dann auch die kompletten Rahmenempfehlungen gebilligt, was im Katastrophenfall geschehen sollte.

Schnelle Evakuierung Die sogenannte "Zentralzone" umfasst seitdem das Gebiet in einer Entfernung von fünf Kilometern um jedes Atomkraftwerk. Dort sollen die Behörden darauf vorbereitet sein, die gesamte Bevölkerung innerhalb von sechs Stunden komplett zu evakuieren, um Strahlungsschäden nach einem Reaktorunfall zu vermeiden.

Die "Mittelzone" hat nun einen Radius von 20 Kilometern. Hier sollen in Abhängigkeit von der Windrichtung zumindest in einigen Sektoren ebenfalls Evakuierungen folgen, und zwar innerhalb von 24 Stunden. In den weniger stark betroffenen Sektoren dieser Zone sollen sich die Menschen in geschlossenen Gebäuden aufhalten und nach Aufforderung durch die Behörden hochdosierte Jodtabletten einnehmen. Diese sollen verhindern, dass der Körper radioaktiv belastetes Jod aufnimmt (siehe Beitrag unten).

Der Aufenthalt in Gebäuden und die flächendeckende Ausgabe von Jodtabletten an alle Personen unter 45 Jahren sind auch in jenen Gebieten der "Außenzone" vorgesehen, über die die radioaktive Wolke hinwegzieht. Diese Zone erstreckt sich auf das Gebiet im Umkreis von etwa 100 Kilometern um eine Atomkraftwerk.

Um zu erreichen, dass die Verhaltensregeln im Katastrophenfall auch eingehalten werden, gibt es genaue Vorgaben, wie die Behörden sich organisieren sollen und wie die Bevölkerung zu informieren ist. Auch hier fühlt man sich in der Region Aachen gut vorbereitet. "Anders als viele andere Kommunen haben wir die Sirenen nie abgebaut", berichtet Michael Huppertz, stellvertretender Leiter der Feuerwehr Aachen, die für den Katastrophenschutz zuständig ist. "Damit können wir die Menschen jederzeit erreichen." Auch über das Handy-Programm "Katwarn" kann Aachen Alarm auslösen; Warnungen werden dabei bei allen Nutzern direkt aufs Display geschickt. Die Informationen, was in welchen Gebieten zu tun ist, soll dann im Internet sowie über Rundfunk und Fernsehen verbreitet werden. "Wir bereiten uns darauf vor, schnell und verlässlich zu informieren", sagt Oberbürgermeister Philipp. Denn durch falsches Verhalten können sich die Auswirkungen eines Atomunfalls verschlimmern: Wenn alle Menschen gleichzeitig versuchen, eine betroffene Region zu verlassen, bricht der Verkehr zusammen - und die Menschen stehen im Stau, wenn die radioaktive Wolke über sie hinwegzieht, statt sich in einem Gebäude aufzuhalten, das den Großteil der Strahlung abschirmt. Wenn Jodtabletten zu früh eingenommen werden, nützen sie nichts, sondern können sogar schaden.

Umständliche Meldekette Um die Bevölkerung warnen zu können, müssen die Behörden allerdings ihrerseits erst einmal informiert werden. Dabei können durchaus Probleme auftreten. Das zeigte sich bei einer bundesweiten Simulation im September 2013. Die Koordination liegt im Fall einer Nuklearkatastrophe beim Bundesumweltministerium; fachlich unterstützt wird es vom BfS, das über ein Netz von Messstellen die Ausbreitung von Radioaktivität laufend überwacht. Doch bevor das Ministerium Warnungen herausgeben darf, muss es sich mit den Bundesländern abstimmen; das regelt das Strahlenschutzvorsorgegesetz. Im Test zogen sich die Telefonkonferenzen so lange hin, dass die Behörden die erste Warnung erst herausgegeben hätten, nachdem die radioaktive Wolke schon vorbeigezogen wäre.

Als Konsequenz wurde angeregt, die Abstimmung mit den Ländern im Gesetz zu streichen. Passiert ist das aber bis heute nicht. Das Strahlenschutzvorsorgegesetz gilt unverändert, einen Termin für die Novellierung gibt es nicht. Diese sei "Teil der für diese Legislaturperiode vorgesehenen umfassenden Modernisierung des Strahlenschutzrechts", erklärt das Bundesumweltministerium auf Anfrage lediglich. Auch an anderen Stellen hakt es mit der Umsetzung der Maßnahmen, die als Konsequenz aus dem Reaktorunfall in Fukushima beschlossen wurden. Dass in Kommunen wie Aachen die Katastrophenschutzpläne derzeit überarbeitet werden, ist eher die Ausnahme. Anderswo hat die Arbeit noch nicht einmal begonnen.

Verzögerte Planungen So etwa in Hameln: Die niedersächsische Stadt liegt weniger als zehn Kilometer vom Atomkraftwerk Grohnde entfernt. Nach den neuen Empfehlungen der Strahlenschutzkommission liegt der gesamte Landkreis Hameln-Pyrmont mit seinen 175.000 Einwohnern in der Mittelzone, die gegebenenfalls evakuiert werden muss. Doch dafür gibt es noch keinerlei Vorbereitungen. "Wir haben mit der Umsetzung der neuen Empfehlungen noch nicht begonnen, weil es dafür noch keine Vorgaben vom Land gibt", sagt Harald Menzel, der im Landkreis als Amtsleiter für den Katastrophenschutz zuständig ist.

Grundlage für die Einsatzplanung sind derzeit noch die alten Empfehlungen, die nur eine Evakuierung von 5.000 Menschen vorsehen. Wann sich das ändert, ist noch offen. "Es ist beabsichtigt, den Kommunen entsprechende Hinweise absehbar zur Verfügung zu stellen", teilt das Landesinnenministerium auf Anfrage mit. Ein Problem sei das nicht: "Die bisherigen Planungen für den Katastrophenschutz in der Umgebung kerntechnischer Anlagen bieten bereits einen guten Schutz vor den Auswirkungen eines kerntechnischen Unfalls."

Mit dieser Verzögerung steht Niedersachsen nicht allein: "Konkrete Erkenntnisse zu Zeitplanungen der Bundesländer für die Umsetzung der aktuellen Empfehlungen für den Katastrophenschutz in der Umgebung kerntechnischer Anlagen liegen der Bundesregierung nur aus Bayern und Schleswig-Holstein vor", antwortete Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD), Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesumweltministerium, im März auf Anfrage der Bundestagsabgeordneten Sylvia Kotting-Uhl (Grüne). Immerhin: "Die anderen Bundesländer haben, soweit sie sich betroffen sehen, mit der Umsetzung der aktuellen Empfehlungen begonnen."

Kotting-Uhl merkt dazu an: "Wenn es in diesem Tempo weitergeht, ist der überarbeitete AKW-Katastrophenschutz in Deutschland erst dann praxistauglich, wenn unsere letzten Meiler abgeschaltet werden." Etwas diplomatischer drückt sich BfS-Präsident König aus: "Bund und Länder haben sich auf die Umsetzung der Empfehlungen verständigt. Es geht jetzt darum, dass die Voraussetzungen geschaffen werden, das Programm konsequent umzusetzen."

Der Autor ist Redakteur für Wirtschaft und Umwelt bei der "tageszeitung".