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GROSSBRITANNIEN : Sprung ins Unbekannte

Viele Briten haben in den vergangenen Jahren einen bis dahin nicht gekannten Absturz erlebt und sich von der Politik enttäuscht abgewendet. Ihre Hoffnungen ruhen nun…

29.08.2016
2023-08-30T12:30:06.7200Z
4 Min

Es war die erste Rede von Theresa May als neue Premierministerin, wenige Minuten, nachdem Königin Elizabeth II. die konservative Politikerin Mitte Juli um die Amtsübernahme gebeten hatte. "Wenn man aus einer ganz normalen Arbeiterfamilie stammt, dann ist das Leben viel härter als viele Leute in Westminster realisieren", sagte May vor ihrem Amtssitz in der Downing Street, gelegen mitten im besagten Westminster, dem Londoner Regierungsviertel. Die neue Premierministerin stellte eines klar: "Die Regierung, die ich führen werde, wird nicht von den Interessen der privilegierten Wenigen, sondern von denen der ganzen Nation geleitet werden."

Jener Julitag ist eine Zäsur in der jüngsten politischen Geschichte des Königreichs. Er stellt den vorläufigen Abschluss eines der rasantesten Kapitel in der britische Historie dar, eines Kapitels, an das sich das Land und ganz Europa noch lange Zeit erinnern werden. Die Entscheidung von 52 Prozent der britischen Wähler am 23. Juni für den Austritt aus der Europäischen Union war der ultimative Beweis des Misstrauens, das die Bürger gegen die Politik im eigenen Land und darüber hinaus hegen.

Abgestrafte Elite Ob Mays Vorgänger David Cameron, der das Brexit-Votum mit dem Ende seiner politischen Karriere und einem unrühmlichen Platz in den Geschichtsbüchern bezahlte, die EU-Granden in Brüssel oder die deutsche Kanzlerin - alle wurden, das sollte die anschließende Analyse der Politikforscher ergeben, dafür bestraft, dass sie in den Augen von Millionen Menschen nicht mehr zuhören. Sie haben das Vertrauen der Bürger verloren, weil jene, die sie repräsentieren sollen, sich missverstanden, zurückgelassen fühlen. Die Folge ist, dass viele nun den Rat der Politik vollständig ignorieren.

Das Meinungsinstitut YouGov veröffentlichte wenige Tage vor dem Referendum eine Umfrage unter Brexit-Anhängern zu der Frage, wie viel Vertrauen sie in Politiker, Medien und Akademiker haben. Die Resultate waren erschreckend. 81 Prozent sagten, sie vertrauten keinem einzigen britischen Politiker. 76 Prozent schenkten Journalisten keinerlei Glauben. Und selbst Experten renommierter Think Tanks wollten nur 13 Prozent ihr Vertrauen geben.

Die Folgen dieses Abwendens von der "politischen und akademischen Klasse" brachen in den Morgenstunden des 24. Juni brutal über die Regierung Cameron herein. Gegen alle Warnungen und Ratschläge der konservativen Regierung, von fast allen Parteien, Wirtschaftsfachleuten und internationalen Vertretern hatte die Mehrzahl der Menschen in England und Wales für den Brexit gestimmt. Sie hatten lieber den Sprung ins Unbekannte gewagt, als weiter mit dem zu leben, was man ihnen im fernen London als die vermeintlich beste Option angeboten hatte.

Verschwundene Konstanten Denn diese vermeintliche beste Option hat sich für eine wachsende Zahl der Briten in den vergangenen Jahren als eine Minusrechnung herausgestellt. Was "London" als Vorteile von Globalisierung und Zuwanderung preist, das empfinden immer mehr Bürger als Kontrollverlust. Sicher geglaubte Konstanten sind verschwunden: die moderate, aber regelmäßige Einkommenssteigerung, der Ausbau der sozialen Sicherungssysteme, die Versorgung mit öffentlichen Diensten - vom steuerfinanzierten und für jeden zugänglichen Gesundheitssystem NHS, über den Zugang zu Schulen oder die Garantie der öffentlichen Sicherheit durch die Polizei.

Das Gefühl von Millionen Briten, dass die eigene Lebensqualität trotz der angeblich positiven Effekte einer globalisierten Welt sinkt statt steigt, lässt sich mit konkreten Zahlen untermauern. "Seit der weltweiten Finanzkrise haben die Reallöhne von Arbeitern und ihren Familien und der damit einhergehende Lebensstandard einen in der modernen Geschichte bisher nicht gekannten Absturz erlebt", analysiert der Ökonomieprofessor Stephen Machin. Er hat errechnet, dass die Reallöhne in beinahe allen Branchen seit 2008 um zehn Prozent gefallen sind. Diese Entwicklung seit dem Beginn der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise folgt einer fast 20-jährigen Periode, in denen die Einkommen ständig, wenn auch moderat gewachsen waren. Gleichzeitig ist die "Lohn-Ungerechtigkeit" ("wage inequality"), also der Abstand zwischen besonders gut und besonders gering Verdienenden, immer größer geworden.

Angesichts der hohen Lebenshaltungskosten in Großbritannien bringen die fallenden Löhne für die betroffenen Arbeitnehmer und ihre Familien eine riesige Unsicherheit mit sich. Das hat eine Studie von "Shelter", einer Organisation mit dem Fokus auf Obdachlosigkeit, jüngst mit erschreckenden Zahlen verdeutlicht. 37 Prozent der Befragten gaben an, dass sie ihre Hypothek nicht länger als einen zusätzlichen Monat finanzieren könnten, würden sie morgen ihren Arbeitsplatz verlieren. 23 Prozent sagten sogar, dass sie nicht einmal einen Monat weiter ihr Eigentum abbezahlen könnten. Da das gesamte Einkommen in die alltäglichen Kosten gehe und die Leute kaum Erspartes hätten, stünden "sehr viele Familien ständig vor dem Absturz", wie eine Sprecherin der Organisation erklärte. Besonders die jungen und geringverdienenden Briten verfügen anderen Studien zufolge über so gut wie gar kein Erspartes, das sie im Notfall einsetzen könnten.

Tiefe Verunsicherung In dieses Gefühl tiefer Verunsicherung stoßen Parteien wie die Anti-EU-Partei Ukip. Dass sie bei den Parlamentswahlen 2015 fast 13 Prozent der Stimmen erreichte und sich nach dem Brexit-Votum als historischer Gewinner feiern ließ, hatte beileibe nicht nur mit der verbreiteten Aversion gegen Brüssel zu tun. Eine große Rolle spielten auch die unermüdliche Angriffe von Ukip-Chef Nigel Farage gegen das so genannte Establishment: die politische Elite in London und Brüssel, die in einer "bubble" (Blase) lebe, vom "wirklichen Leben" keine Ahnung habe und mit den Medien gemeinsame Sache mache.

Aus Sicht der neuen britischen Regierung ist es darum nicht nur logisch, sondern ganz und gar existenziell, dass die Trennung von der Europäischen Union jetzt ganz oben auf der Agenda steht. Mit welchem Erfolg Premierministerin Theresa May genau diese Aufgabe gelingt, wird in Großbritannien in den nächsten Jahren maßgeblich darüber entscheiden, wie viel Vertrauen die Politik von den Bürgern zurückgewinnen kann.

Die Autorin ist Korrespondentin der "Welt" in London.