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BREXIT : Scheidung mit Hindernissen

Nach dem Ausstiegsvotum der Briten muss das Verhältnis des Landes zur EU von Grund auf neu justiert werden. Die Verhandlungen werden sich wohl Jahre hinziehen

29.08.2016
2023-08-30T12:30:06.7200Z
4 Min

Eigentlich waren alle gut vorbereitet auf das Votum der Briten für einen Austritt aus der Europäischen Union. Geschlossenheit wollten die Präsidenten der drei EU-Institutionen, Europaparlamentspräsident Martin Schulz (SPD), Ratspräsident Donald Tusk und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, demonstrieren, um jegliche Zweifel am Projekt EU im Keim zu ersticken. Zwei Tage funktionierte das gut. Dann brach zwischen Rat und Kommission ein Streit darüber aus, wer die Austrittsverhandlungen mit den Briten führen solle. Die Mitgliedstaaten nominierten den erfahrenen Belgier Didier Seeuws, die Kommission reagierte verschnupft. Gerade noch konnte ein Grundsatzstreit vermieden und ein Kompromiss gefunden werden. Nun soll der ehemalige Kommissar Michel Barnier von Oktober an als Chefunterhändler die Austrittsverhandlungen vorbereiten und anschließend führen - und sich dabei eng mit Seeuws abstimmen.

Die Episode gibt einen Vorgeschmack darauf, wie schwierig sich die Verhandlungen mit den Briten gestalten dürften. Beide Seiten betreten mit den Verhandlungen Neuland, die Vorgaben aus den EU-Verträgen sind knapp bemessen.

Der Austritt eines Landes ist in Artikel 50 des Lissabonner Vertrags geregelt. Dort steht schlicht: "Jeder Mitgliedstaat kann im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der EU auszutreten." Die Prozedur für den Austritt ist auf zwei Jahre begrenzt. Die Uhr fängt aber erst an zu ticken, wenn die Briten formell den Antrag auf einen Austritt gestellt haben. Wann das sein wird, ist nach wie vor offen. Die meisten Beobachter in Brüssel gehen davon aus, dass London um die Jahreswende aktiv wird. Sicher ist das aber keineswegs.

Der Austritt müsste dann spätestens Anfang 2019 vollzogen werden. Als realistisch wird das von kaum jemandem in Brüssel angesehen. "In zwei Jahren ist das schlicht nicht zu schaffen", heißt es in der EU-Kommission ganz offen. Schon die Verhandlungen über den Austritt von Grönland Anfang der achtziger Jahre, wenn auch nicht ganz vergleichbar, zogen sich drei Jahre hin, obwohl es eigentlich nur um Fischereifragen ging. Die Liste der Fragen, die mit dem Vereinigten Königreich in dem anstehenden "Scheidungsverfahren mit Trennung der Gütergemeinschaft" geklärt werden muss, ist ungleich länger. In beinahe jedem Politikgebiet muss das britisch-europäische Verhältnis neu justiert werden, von den bisher gemeinsamen Zusagen für den Klimaschutz bis zum Zugang der Briten zum EU-Binnenmarkt.

Vor allem um Geld wird es wohl viel Streit geben. So müssen die EU und das Vereinigte Königreich klären, was mit Projekten auf der Insel geschieht, die aus dem EU-Haushalt gefördert werden. Auch müssen beide Seiten festlegen, wie Großbritannien für seinen Anteil an den Pensionsverpflichtungen für die EU-Beamten aufkommt. Hier geht es um insgesamt 60 Milliarden Euro. Nicht zuletzt müssen sie die heikle Frage klären, wie beide Seiten mit langfristig zugesagten Projekten umgehen. Deren Förderung haben die Briten vor dem Austritt mit beschlossen, die Zahlungen fallen aber oft erst Jahre später an. Die Kommission vertritt die Ansicht, dass die Briten in der Pflicht stehen. Aber ob die britische Regierung das so akzeptiert, ist mehr als fraglich. Zuletzt lag die Summe "offener Rechnungen" bei 200 Milliarden Euro. Auf die Briten würden davon wohl mehr als 20 Milliarden Euro entfallen.

Gefragte Experten Leichter dürfte zu klären sein, was mit den rund 1.200 Briten unter den 33.000 Kommissionbeamten geschieht. Die Kommission könnte sie nach dem Austritt entlassen, wird das aber wohl nicht tun. Wie ihre Karriereaussichten in Brüssel nach einem Austritt ihres Heimatlands aussehen, ist ein andere Frage.

Für viele bietet der Brexit jedoch auch eine Chance. Schließlich ist die britische Regierung für die Austrittsverhandlungen auf Fachleute angewiesen. Das gilt erst recht für die Handelspolitik, die seit Jahren fest in der Hand der Union ist und nun renationalisiert werden muss. Allein in diesem Feld suchen die Briten insgesamt tausend Experten.

In die Länge ziehen wird die Verhandlungen zudem, dass EU und Briten parallel zu den Gesprächen über die Trennung der Gütergemeinschaft Gespräche über ihr neues Verhältnis führen müssen. In der Theorie soll eines zwar auf das andere folgen. Praktisch ist das aber unmöglich. Schließlich ist es für eine saubere Scheidung nicht irrelevant, wie das neue Verhältnis beider Seiten aussieht, wie es ein Kommissionsmitglied auf den Punkt gebracht hat. Das Entscheidende dürfte dabei der Zugang zum Binnenmarkt sein. Die Briten wollen Güter und Dienstleistungen weiter möglichst ungehindert in der "Rest-EU" anbieten, aber den Zuzug der Arbeitnehmer nach Großbritannien einschränken - was der Idee des EU-Binnenmarkts entgegensteht.

So werden sich die Verhandlungen am Ende wohl länger als die vorgesehenen zwei Jahre hinziehen - vorausgesetzt, die Mitgliedstaaten tragen dies mit. Sie müssten der Verlängerung einstimmig zustimmen. Eine hohe Hürde, aber keine unüberwindbare. Schließlich liegt es im Interesse aller Beteiligten, dass der Brexit nicht im Chaos endet.

Der Autor ist EU-Korrespondent der FAZ in Brüssel.