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Freihandel : TTIP paradox

Trotz der offensichtlichen Vorteile hat sich bei den Deutschen ein tiefes Misstrauen gegen das Abkommen festgesetzt

29.08.2016
2023-08-30T12:30:06.7200Z
5 Min

Es ist schon paradox: Kein Land der Europäischen Union (EU) dürfte von dem geplanten Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten so stark profitieren wie die Exportnation Deutschland. In keinem Land der EU ist aber auch der Widerstand so groß. Nirgendwo sitzt das Misstrauen gegen die Transatlantische Handels und Investitionspartnerschaft, kurz TTIP, so tief wie in Deutschland. Groß ist die Furcht, mit dem Abbau der Handelshemmnisse zwischen den beiden Kontinenten könnten auch soziale und ökologische Standards ausgehöhlt werden. Die Kritik, getragen von Gewerkschaftern, Umwelt- und Verbraucherschützern sowie Sozialverbänden und Teilen der Politik, entzündet sich aber nicht nur an den Inhalten der Verhandlungen, sondern auch daran, wie sie ablaufen: Denn die Gespräche zwischen Washington und Brüssel finden weitgehend hinter verschlossen Türen statt.

Geheimdiplomatie Für die Kritiker ein Unding. "Geheimdiplomatie wie im 19. Jahrhundert" werfen sie den Verhandlungspartnern vor, warnen gar von einem Untergraben von Demokratie und Rechtstaatlichkeit. Denn nicht nur einfache Bürger, auch Parlamentarier, die ja einmal über das Paket abstimmen sollen, haben Schwierigkeiten, an Informationen zum Verhandlungsstand zu kommen - geschweige denn, darauf Einfluss nehmen zu können.

Seit drei Jahren verhandeln die Europäer, vertreten durch die EU-Kommission, mit der US-Regierung. Die EU-Kommission hat vom Europäischen Rat das Mandat erhalten, mit den USA einen umfassenden Gesamtpakt auszuhandeln. Von Anfang an hielten sich beide Seiten bedeckt. Das Verhandlungsmandat wurde zunächst nicht offengelegt. Die Bevölkerung erfuhr von den geheimen Verhandlungspositionen nur über durchgesickerte Dokumente, klagen die Globalisierungskritiker von Attac. Parlamente bekommen den Vertrag erst nach Abschluss der Verhandlungen vorgelegt. Ändern können sie ihn dann nicht mehr, kritisiert Attac. So sei zu befürchten, "dass ein Pakt entsteht, in dem die Wunschliste der Konzerne als zukünftige internationale Wirtschaftspolitik festgeschrieben wird".

Offenlegung Zu den Forderungen der Kritiker gehört deshalb, die Verhandlungsdokumente stets umgehend offenzulegen. Spätestens, nachdem die TTIP-Kritiker im Oktober 2015 mehr als 150.000 Demonstranten gegen die "Geheimverhandlungen" in Berlin auf die Straße brachten, sind die Freihandelsbefürworter in Regierung und Wirtschaft aufgeschreckt - und mühen sich um mehr Transparenz. Ein schwieriger Spagat: Einerseits muss die Vertraulichkeit der Verhandlungen gewährleistet werden, auch um die eigene Verhandlungsposition nicht zu schwächen, andererseits die Öffentlichkeit soweit informiert werden, dass ihr Misstrauen nicht noch weiter wächst.

Nicht immer ist das möglich. Nach der Veröffentlichung vertraulicher Dokumente traf die EU-Kommission im August 2015 die Entscheidung, den vertraulichen Bericht über die zehnte Verhandlungsrunde in einem sicheren Leseraum auszulegen. "Dieser Bericht enthält auch taktische Überlegungen und unsere interne Bewertung von US-Positionen", begründete dies damals Reinhard Kühnel, Vertreter der EU-Kommission in Berlin. Bestimmte Enthüllungen schwächten die Verhandlungsposition der EU und machten es schwieriger, das beste Ergebnis im Interesse Europas und seiner Bürger zu erzielen. Noch deutlicher formulierte es der SPD-Bundestagsabgeordnete Hans-Joachim Schabedoth: "Wenn man seine Verhandlungsposition offenlegen würde, wäre das wie nackt zum Strip-Poker antreten." Bestimmte Dokumente, die rote Linien, Rückfallpositionen, Strategie und Taktik beschreiben, legt die Kommission daher nur den Regierungen der EU-Staaten und den EU-Parlamentariern vor.

Auch die Verhandlungspartner legen Wert auf Vertraulichkeit: Nur bei vertraulichen Gesprächen sei es möglich, die eigene Verhandlungsposition und -stärke zu schützen und gleichzeitig auch Themen auf den Tisch zu legen, die man sonst wohl nicht ansprechen würde, argumentierte der US-Handelsbeauftragte Ron Kirk.

Doch mit steigendem öffentlichen Interesse wuchs der Druck auf die Verhandlungspartner, und die EU-Kommission begann die Öffentlichkeit stärker einzubeziehen. Sie veröffentlichte das lange Zeit geheim gehaltene Verhandlungsmandat - das allerdings schon längst durchgesickert war - und Informationen zum Verhandlungsstand. Jede Verhandlungsrunde wird im Vorfeld angekündigt und alle Interessenvertreter werden dazu eingeladen, ihre Positionen dem Verhandlerteam zu unterbreiten. Es gibt Briefings durch die Chefverhandler, Pressekonferenzen nach den Runden, die Kommission veröffentlicht Dokumente zu ihren Verhandlungspositionen sowie Faktenblätter und Broschüren. Darüber hinaus gibt es einen TTIP-Beirat aus unabhängigen Experten, der monatlich zu Beratungen zusammenkommt.

Vertrauliche Dokumente bekommen Bürger und Interessengruppen aber nach wie vor nicht zu sehen, sie dürfen nur von ausgewählten Regierungsmitgliedern und Parlamentariern eingesehen werden. Nachdem zunächst nur Regierungsmitglieder in der EU-Kommission in Brüssel und den US-Botschaften Einblick in die Verhandlungspositionen nehmen konnten, wurde im Februar 2016 nach vielen Protesten - auch vom Ältestenrat des Bundestages - ein TTIP-Leseraum im Bundeswirtschaftsministerium eingerichtet. Dort können jetzt die Bundestagsabgeordneten sowie die Mitglieder des Bundesrates und Mitarbeiter der Regierung die so genannten konsolidierten Verhandlungstexte einsehen, die aus den Textvorschlägen der Europäer und US-Amerikaner bestehen - allerdings unter strengen Auflagen. Es dürfen keine Kopien gemacht werden, nur handschriftliche Notizen. Der Raum darf maximal zwei Stunden genutzt werden und über die Verhandlungstexte dürfen die Abgeordneten nicht sprechen - noch nicht einmal mit ihren Mitarbeitern.

Die Kritiker sind mit diesem Verfahren nicht zufrieden. "Eine Farce", sei das, erklärt Christoph Lieven, TTIP-Experte von Greenpeace. Greenpeace Niederlande hatte im Mai 250 Seiten geheime Verhandlungsdokumente zu TTIP veröffentlicht, die der Umweltorganisation von einer ungenannten Quelle zugespielt worden waren. "Wie kann man solche schwierigen Texte im Juristen-Englisch in zwei Stunden verstehen?", fragt Lieven. "Und wie soll man sich eine Meinung bilden, wenn man nicht mit anderen darüber sprechen darf?" "Absurd" nennt auch die Grünen-Abgeordnete Bärbel Höhn, die als eine der ersten den Leseraum im Wirtschaftsministerium besuchte, diese Restriktionen: "Solche komplizierten Verträge muss man mit Handels- und Völkerrechtsexperten diskutieren, ansonsten passiert es schnell, dass man Sachverhalte übersieht." Andere Abgeordnete weisen diese Kritik als Mäkelei zurück. "Da wird doch nur ein Popanz und künstliche Empörung aufgebauscht, statt sich inhaltlich mit dem Thema auseinanderzusetzen", kritisiert Joachim Pfeiffer (CDU), der wirtschaftpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion.

Noch nie so transparent Noch nie ist ein Handelsabkommen so transparent verhandelt worden wie TTIP - dennoch wächst das Misstrauen weiter. Nur noch 17 Prozent sind nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung für das Handelsabkommen, vor zwei Jahren war noch eine Mehrheit von 55 Prozent für TTIP. Die Kritik der TTIP-Gegner ist offenbar in der Öffentlichkeit angekommen: 30 Prozent der Deutschen fühlen sich nicht ausreichend über das Abkommen informiert, jeder zweite fürchtet negative Folgen durch TTIP für den Verbraucherschutz.

Nach der Sommerpause gehen die Verhandlungen in die nächste Runde. EU und USA wollen TTIP bis zum Jahresende fertig aushandeln. Im Oktober soll zudem CETA, das entsprechende Abkommen mit Kanada und so etwas wie eine Blaupause für TTIP, unterzeichnet werden. Aber auch die Gegner machen bereits mobil: Für den 17. September sind Großdemonstrationen in sieben deutschen Großstädten geplant. Die Organisatoren erwarten insgesamt weit mehr als 100.000 Menschen - Deutschland steht wohl vor einem heißen TTIP-Herbst.

Der Autor ist freier Journalist in Berlin.