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GESUNDHEIT : Vorrang für die Forschung

Bundestag erweitert Möglichkeiten für klinische Arzneimittelstudien an Demenzkranken

14.11.2016
2023-08-30T12:30:10.7200Z
5 Min

Reichskanzler Otto von Bismarck (1815-1898) soll mal gesagt haben, je weniger die Leute davon wüssten, wie Würste und Gesetze gemacht werden, desto besser könnten sie schlafen. Das Bonmot stammt allerdings aus einer Zeit, als die parlamentarischen und demokratischen Gepflogenheiten in Deutschland noch unterentwickelt waren. Heute wird bei der Gesetzgebung meist auf eine breite Beteiligung und Transparenz geachtet, allerdings kommt es vor, dass sich wichtige und strittige Details in dicken Vorlagen und hinter gespreizten Formulierungen verlieren.

Der Entwurf für ein "Viertes Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften" (18/8034) ist so ein Fall, denn es hat ungewöhnlich lange gedauert, bis die gesundheitspolitischen Fachleute, das Parlament insgesamt und die Öffentlichkeit darauf kamen, dass hier ein brisantes Thema behandelt wird, das geneigt ist, der üblichen Parlamentsroutine zu entfliehen. Es waren anfangs aus nachvollziehbaren Gründen viele Abgeordnete nicht in der Lage, Wesen, Bedeutung und Tragweite dieser Gesetzgebung zu erkennen und ihren Willen danach auszurichten. Wer wüsste auch schon so genau, was gemeint ist, wenn gruppennützige Forschung an nicht einwilligungsfähigen Probanden künftig erlaubt sein soll. Gruppennützig, das kennt der Duden gar nicht.

Anfängliche Verwirrung Vielleicht lag die anfängliche Verwirrung auch daran, dass im Referentenentwurf die fragile Passage noch gar nicht vorgesehen war und auf geheimnisvollen Pfaden den Weg in die Vorlage fand. Unions-Berichterstatter Hubert Hüppe (CDU) wundert sich bis heute darüber (siehe Interview Seite 2). Nun ist die Sache zugunsten der Arzneimittelforschung entschieden, nach einer spektakulären Kurvenfahrt durch die parlamentarischen Gremien. Am vergangenen Mittwoch fand der Gesetzgebungskrimi in der abgekoppelten zweiten Lesung seinen Höhepunkt. Selten hat der Bundestag eine so komplexe Materie und zugleich einen so ungewöhnlichen Verfahrensweg zu bewältigen. Die zweite Lesung ist normalerweise knappe Routine: aufrufen, abstimmen, fertig. Diesmal wurde allen Beteiligten ein sehenswertes Schauspiel parlamentarischer Abstimmungskultur geboten, das der Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (SPD) volle Konzentration und Nervenstärke abverlangte. Die ganzen Drucksachennummern, vier Änderungsanträge, Zwischenabstimmungen und dann auch noch ein Hammelsprung, wobei die "Herde" oft schwer in Trab kommt.

Alarmierende Zahlen Die Sache ist aber auch sowas von komplex. In Deutschland sind klinische Arzneimittelstudien an nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen, also etwa Menschen mit fortgeschrittener Demenz, bisher nur erlaubt, wenn Teilnehmer einen Eigennutzen davon haben. Bei der gruppennützigen Forschung ist ein Vorteil für die Teilnehmer hingegen nicht zu erwarten. Der Bundesregierung geht es darum, die Forschung an neurodegenerativen Erkrankungen voranzubringen, also zu klären, warum Nervenzellen im Gehirn massenhaft den Geist aufgeben. Zu dieser Art Verfall zählen neben Demenz auch die Parkinson-Erkrankung, die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), die Huntington-Erkrankung und die Creutzfeldt-Jacob-Krankheit.

Fachleute sind alarmiert, denn die Zahl der Demenzkranken steigt rasant, die gesundheitlichen, sozialen und finanziellen Folgen sind nicht abzuschätzen. In Deutschland leben rund 1,6 Millionen Menschen mit einer Demenzerkrankung. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft (DAlzG) geht davon aus, dass sich die Zahl bis 2050 auf rund drei Millionen Fälle verdoppelt, falls es keinen therapeutischen Durchbruch gibt (siehe Grafik unten und Hintergrund auf Seite 3). Bei der zweiten Lesung standen drei konkurrierende Änderungsanträge zur Auswahl, wobei sich die Abgeordneten frei entscheiden durften, wie das bei bioethischen Themen üblich ist. Bis zuletzt wollte auch niemand eine Prognose abgeben, welcher Antrag wohl das Rennen machen könnte. Stattdessen tobte hinter den Kulissen ein harter Kampf um Abstimmungsmodalitäten, Reihenfolgen und Redezeiten sowie um das Prinzip.

Hochspannung Dem zuerst abgestimmten Antrag (18/10233), es bei der jetzigen Regelung zu belassen, hatten Beobachter gute Chancen eingeräumt. Die Vorlage kam jedoch nur auf 254 Ja-Stimmen, 321 Abgeordnete votierten mit Nein. Noch wesentlich schlechter schnitt der zweite Vorschlag ab (18/10234), wonach die erweiterte Forschung unter der Voraussetzung einer Vorabverfügung und optionaler ärztlicher Beratung des Probanden gestattet werden sollte. Nur 69 Parlamentarier konnten sich dafür erwärmen, 508 waren dagegen.

Eine gewisse Erleichterung machte sich breit, als der dritte Vorschlag, der unter anderem von dem SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach und Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) vertreten wurde, mit 330 Ja-Stimmen bei 243 Ablehnungen die nötige Mehrheit bekam. Parteistrategen hatten befürchtet, es könnte am Ende kein Antrag eine Mehrheit bekommen und die dritte Lesung womöglich ausfallen. Nun soll also die gruppennützige Forschung an nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen künftig erlaubt werden unter der Voraussetzung einer Vorabverfügung einschließlich verpflichtender ärztlicher Beratung. Diese Regelung ist damit immer noch viel strikter als die auf EU-Ebene.

Für eine Überraschung sorgte der frühere Behindertenbeauftragte Hüppe, der kurzfristig einen weiteren Änderungsantrag (18/10236) aus dem Ärmel zog und überzeugend darlegte, dass ohne eine zusätzliche Klarstellung das Schutzniveau für nicht einwilligungsfähige Minderjährige und Erwachsene bei klinischen Prüfungen sinken würde. So müsse klar sein, dass auch nonverbal geäußerte Ablehnungen, etwa Gesten, zu beachten seien, wenn es darum gehe, eine Studienteilnahme zu stoppen. Den wunden Punkt in der Vorlage hatte Hüppe als einziger entdeckt und erntete zufrieden die Lorbeeren. Der Antrag fand im Plenum eine breite Mehrheit.

In der zweiten Lesung fanden auch persönliche Schicksale den Weg an die Öffentlichkeit, wobei die Schlussfolgerungen daraus unterschiedlich ausfielen. So berichtete Petra Sitte (Linke) von ihrem Vater, der an der Alzheimer-Erkrankung gelitten habe: "Ich weiß noch ganz genau, wie mein Vater damals zu mir sagte: Mädel, wenn ich eine Chance habe, in solch eine Studie zu kommen, dann sieh zu, dass ich da auch reinkomme. Vielleicht bringt es mir etwas; wenn nicht, dann hilft es vielleicht anderen." Sitte plädierte für die gesetzliche Änderung.

Kordula Schulz-Asche (Grüne) offenbarte, ihre Eltern hätten beide an Demenz gelitten. "Sie können mir wirklich glauben, dass ich alles Interesse daran habe, dass wir so schnell wie möglich mehr wissen über diese Erkrankung". Jedoch erlaube die jetzige Rechtslage sowohl Forschung wie auch Schutz. Die Grünen-Politikerin mahnte: "Man sollte keine bewährten Gesetze ändern, wenn es dafür keine triftigen Gründe gibt." Kathrin Vogler (Linke) sprach von der "dunklen Seite der Forschung" und erinnerte ihre Kollegen darn, dass der Bundestag erst 2013 einstimmig beschlossen habe, das Schutzniveau uneingeschränkt zu erhalten.

Konsens im Kleinen Die Abstimmung am Freitag war fast schon wieder Routine. Der Gesetzentwurf (18/8034) ging mit 357 von 542 Stimmen durch, bei 164 Nein-Stimmen und 21 Enthaltungen. Redner von Regierungs- und Oppositionsseite legten in der Schlussdebatte Wert darauf, dass der 60 Seiten starke Entwurf über den fraglichen Passus hinaus noch andere wichtige Regelungen zur Arzneimittelsicherheit enthalte. Maria Michalk (CDU) betonte, das Parlament habe sich in einem nicht alltäglichen Verfahren viel Zeit genommen für die Novelle, der sie als Christin guten Gewissens zustimmen könne.

Erich Irlstorfer (CSU) sagte, wer als Studienteilnehmer an starker Demenz leide, könne jederzeit aussteigen. Dazu genüge es, einen Unwillen zu zeigen. Edgar Franke (SPD) sprach von einer guten und ausgewogenen Regelung. Franke fügte hinzu, mit dem Gesetz, würden auch Vorkehrungen getroffen gegen Arzneimittelfälschungen. Zudem werde Sorge getragen, dass künftig ausreichend Medikamente und Impfstoffe verfügbar seien. Stephan Albani (CDU) sagte, es gehe darum, die Geißeln der Menschheit zu überwinden. Dazu zähle die Demenz, die wie andere Krankheiten auch nicht unüberwindbar sei, selbst wenn dies derzeit so scheine. Martina Stamm-Fibich (SPD), die sich für das Forschungsverbotes stark gemacht hatte, sagte, die vergangenen Monate hätten gezeigt, dass solche Fragestellungen frühzeitig gesellschaftlich debattiert werden sollten und nicht nur in Fachkreisen.