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GROSSBRITANNIEN : In oder out?

David Cameron hat seinen Deal mit der EU durchgesetzt. Doch die schwierigste Aufgabe, einen »Brexit« zu verhindern, steht ihm noch bevor

29.02.2016
2023-08-30T12:29:56.7200Z
4 Min

Es dauerte keine 48 Stunden bis David Cameron nach seinem mühsam in Brüssel ausgefochtenen Reformdeal den ersten und möglicherweise schmerzhaftesten Angriff abbekam. Londons Bürgermeister Boris Johnson begann die offene Feldschlacht um das britische EU-Referendum und bekannte sich zum Out.

Der Austritt aus der Europäischen Union sei für ihn der bessere Deal, verkündete Camerons Partei- und Studienfreund. "Wir sehen den langsamen und unsichtbaren Prozess einer legalen Kolonialisierung, weil die EU fast jeden Bereich der Politik infiltriert (...) Je mehr sie tut, umso weniger Raum bleibt übrig für nationale Entscheidungen." Der Europäische Gerichtshof habe am Ende immer den Vorrang vor dem britischen Recht. Nationale Souveränität? Schon lange aufgegeben.

Großbritannien kann es allein besser, ist Johnsons Fazit. Während Premier Cameron seinem Land durch die ausgehandelten EU-Reformen einen besseren Status im Klub verschafft zu haben behauptet, zählen die Brüsseler Zugeständnisse - etwa ein Mitspracherecht bei für London relevanten Entscheidungen der Eurozone und die Möglichkeit, neu zugezogenen EU-Ausländern in seinem Land bis zu vier Jahre lang Sozialleistungen zu verwehren - für die EU-Gegner nichts. "Sie sind das Papier nicht wert, auf dem sie stehen", fasst es Nigel Farage, Chef der Anti-EU-Partei UKIP, zusammen

Johnsons Bekenntnis ist für ihn ein Glücksfall. Der exzentrische, wortgewaltige Tory mit blondem Zauselhaar ist durch alle Schichten wegen seiner Exzentrik und seiner intellektuellen, zugleich volksnahen Schlagfertigkeit beliebt. Die Out-Kampagne hat damit ein sehr populäres Gesicht.

Einer Umfrage der euroskeptischen Zeitung "Daily Telegraph" zufolge, für die Johnson als Kolumnist schreibt, wollen 64 Prozent für den Brexit stimmen, weil "BoJo" es tut. Auf das Drittel der unentschiedenen Wähler wird sein Bekenntnis wie auch das anderer prominenter konservativer Kabinettsmitglieder ebenfalls Einfluss haben.

Knapper Vorsprung Derzeit liegt das Lager der EU-Freunde mit rund 54 Prozent in den Umfragen acht Punkte vor den Aussteigern. Aber bis zum Referendumstermin am 23. Juni kann noch viel passieren. Die Briten werden bis dahin genau hinsehen, was auf dem Kontinent passiert, und es wird ihre Entscheidung leiten. Die Lage der Flüchtlinge spitzt sich zu, besonders in Griechenland, das durch die Euro-Krise ohnehin vor dem Abgrund steht - in den Augen vieler Briten verschuldet durch in Brüssel und Berlin gemachte Politik. Auch ein neuerlicher islamistischer Terroranschlag könnte die Lage ändern. Schon jetzt machen die britischen, in ihrer großen Mehrheit heftig Brüssel-feindlichen Boulevardmedien mit vermeintlichen Zahlen zu Dschihadisten auf, die sich zu Tausenden versteckt im Flüchtlingstreck auf das Königreich zubewegten.

Und so verhallen die Reformen, die Cameron beim EU-Gipfel ausgehandelt hat. Zwar ging die Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft unmittelbar danach merklich nach oben. Aber bei der in EU-Fragen schockierend uninformierten Öffentlichkeit drängten sehr schnell andere Schlagzeilen in den Vordergrund. Etwa die Behauptung eines Gegners Camerons aus den eigenen Reihen. Die Zusagen an den Premier seien im Ernstfall sowieso nicht rechtlich bindend, behauptete der scharfsinnige Justizminister Michael Gove. Dass EU-Ratspräsident Donald Tusk diesen Vorwurf umgehend zu entkräften versuchte, zählte wenig bei einem Publikum, das den Brüsseler Institutionen nicht über den Weg traut.

So ist es an Cameron, die Briten von "seiner reformierten EU" zu überzeugen. In der ersten Unterhausdebatte nach dem Gipfel trug er nach Meinung der britischen Kommentatoren den ersten Punktsieg gegen Johnson davon. Auch durch Sätze wie diesen: "Ich kenne eine Reihe von Paaren, die eine Scheidung eingeleitet haben. Aber ich kenne keines, das dies getan hat, um sich danach wieder das Eheversprechen zu geben." Eine gezielte Attacke auf Johnson, in dessen Theorie die EU nach einem Brexit so verzweifelt sein wird, dass London noch einmal verhandeln kann - um einen "wirklich guten" Deal zu bekommen.

Im Europäischen Parlament ernteten die Vertreter der britischen Konservativen ebenfalls Spott. Cameron habe seinen Deal nicht für den Verbleib in der EU geschlossen, "sondern um die Tory-Partei wieder zu einen", urteilte Guy Verhofstadt, Chef der Liberalen. Johnsons Eintreten für den Austritt sei "gegen das Interesse der Menschen in London. Das Pfund fällt in den Keller. Die Union des Königreichs ist gefährdet", warnte er mit Blick auf die eurofreundlichen Schotten. "Und glaubt nicht, Ihr könnt nach einem Nein zurück an den Verhandlungstisch. Hier gilt: In oder out."

Der deutsche CSU-Abgeordnete Manfred Weber, Vorsitzender der konservativen Fraktion, stellte den gesamten Deal in Frage: "Es ging um die Sonderinteressen der City of London und die Zahlung von Kindergeld an EU-Ausländer. Die Frage ist, ob das die wichtigsten Prioritäten in diesen Zeiten sein dürfen."

Die Autorin ist Korrespondentin der "Welt" in London.