Piwik Webtracking Image

KLAUS BRÄHMIG : »Mehr mit Bürgern reden«

Der sächsische Abgeordnete sieht seine Landsleute in der Flüchtlingskrise zu Unrecht an den Pranger gestellt

29.02.2016
2023-08-30T12:29:57.7200Z
5 Min

Herr Brähmig, Sachsen macht häufig Negativschlagzeilen in der Flüchtlingskrise, woran liegt das?

Sachsen steht seit längerer Zeit im Fokus der Medien und die Statistik gibt es teilweise ja her. Umgekehrt sorgte ein Medien-GAU 2000 für viel Unmut und Wut in meiner Heimatregion. In einem Schwimmbad in Sebnitz kam ein deutscher Junge mit irakischem Vater durch Herzversagen zu Tode. Die Medien stürzten sich reflexartig auf den Vorwurf, dass Neonazis das Kind öffentlich ertränkt hätten. Eine Region wurde - ohne Überprüfung der Tatsachen - medial regelrecht hingerichtet. Als die NPD dann in einigen Orten auf weit über fünf Prozent kam, haben die Medien erneut einen Hype entfacht. Dass die Parteien, bürgerschaftliche Initiativen und die Aktion Zivilcourage die NPD in den Stadtparlamenten zurückgedrängt haben, darüber schreibt leider keiner.

Was bringt Bürger dazu, sich so vehement gegen Flüchtlinge zu wehren?

Man darf unsere DDR-Sozialisation nicht verkennen. Wir hatten mit Menschen aus fremden Kulturen ja keinen gelebten Kontakt. Neben Osteuropäern gab es nur vier Ausländergruppen in der DDR; das waren Kubaner, Vietnamesen, Mosambikaner und Angolaner, die quasi isoliert lebten. Wir haben Ausländer nicht erlebt, weder auf Straßenfesten noch in Sportvereinen. Viele Menschen haben deswegen Vorbehalte. Auf der anderen Seite sind die Sachsen nach der Wiedervereinigung zu Reiseweltmeistern geworden. Die Neugier nach anderen Kulturen ist groß, aber im eigenen Sprengel sind sie mit Fremden zurückhaltend.

Sind Sie beunruhigt von Vorfällen wie in Clausnitz?

In Clausnitz wurden Zivilisationsschranken eingerissen. Wenn weinende Kinder und Frauen nicht mehr beruhigend wirken, bin ich fassungslos. Trotzdem frage ich, ob der gleiche Fall in NRW oder Bayern mit emotionalisierender Videosequenz die gleiche Aufmerksamkeit erhalten hätte. Die Polizei hat in Clausnitz im Auftrag der örtlichen Behörden zur Beruhigung beigetragen. Das wirkte vielleicht menschlich kalt, aber war angesichts der aufgebrachten Situation angemessen. Im Zweifel stehe ich 150 Prozent hinter der Bundes- und Landespolizei. Sie hält den Kopf hin für Dinge, die wir politisch zu verantworten haben. Sie nach Ferndiagnose an den Pranger zu stellen, ist mir zu billig.

Viele Menschen gehen in Dresden zu Pegida-Demonstrationen, was sind das denn für Leute?

Pegida wird programmatisch überbewertet. Aus meiner Erfahrung ist das ein Konglomerat von Bürgern, die schwer zu fassen sind. Da stehen TTIP- und GEZ-Gegner neben Nazis und einer großen Schar bürgerlicher Menschen, die von den etablierten Parteien enttäuscht sind. Das paart sich dann zusätzlich mit Protesttourismus.

Das heißt, Sie sehen kein vordringlich sächsisches Problem?

Wir haben viel zu tun, aber viele Pöbler, Brüller und Initiatoren sind keine Sachsen. Beispielsweise fand vor ein paar Wochen in Sebnitz eine Pegida-Veranstaltung statt, angemeldet von einer Gruppe aus Kassel. Grundsätzlich sehe ich ein Kommunikationsproblem. Wir als politisch Verantwortliche in Bund, Ländern und Kommunen müssen mehr mit den Bürgern sprechen, sie ernst nehmen und nicht vorverurteilen. Die Asyl- und Flüchtlingspolitik war lange Schönwettergesetzgebung. Wenn jetzt Millionen kommen, stößt das System an seine Grenzen. Da entstehen soziale und gesellschaftliche Konflikte.

Sachsen hat seit Jahren Probleme mit Rechtsextremisten, obgleich angeblich viel dagegen getan wird. Wieso?

Es ist viel getan worden. Die Aktion Zivilcourage aus Pirna klagt beispielsweise nicht über mangelnde Finanzen. Die Förderperioden und die Förderzusagen müssten so abgestimmt werden, dass mehr mittel- und langfristige Projekte durchgeführt werden können. Ich werbe immer für eine Diskussionskultur auf demokratischer Basis und erlebe viele engagierte Menschen in Kirchen und Vereinen. Wenn wir die Redefreiheit als hohes Gut ansehen, müssen wir uns mit friedlichen Demonstranten auseinandersetzen.

Haben die Proteste schon Auswirkungen auf den Tourismus in Sachsen?

Gerade als Tourismuspolitiker ärgert es mich, wenn 100 Personen in Clausnitz und Bautzen - eine sehr kleine Minderheit der Sachsen - einen ganzen Wirtschaftszweig gefährdet. Wir haben viele internationale Gäste aus Europa, den USA und Israel und bisher ist kein Tourist belästigt oder angegriffen worden. Es gibt aber Menschen, die wegen der aktuellen Nachrichtenlage derzeit keinen Urlaub etwa in der Sächsischen Schweiz machen wollen. Ich sage denen dann, sie können kommen und müssen keine Angst haben. Es ist auch albern, von No-go-Areas in Sachsen zu sprechen.

Offenbar sind viele Menschen mit der Politik unzufrieden. Woran liegt das?

Die Bürger bemerken, dass wir Regeln außer Kraft setzen, etwa die Euro-Stabilitätskriterien oder das Schengen-Grenzregime. Wenn dann seit Jahren im Grenzraum zu Böhmen und Polen Polizeipersonal abgebaut wird und sich Diebstähle und Einbrüche häufen, dann unterminiert das das individuelle Sicherheitsbedürfnis vieler Menschen und stärkt nicht das Vertrauen gegenüber dem Staat als Träger des Gewaltmonopols.

Ist denn Merkels Flüchtlingspolitik gescheitert?

Ich bin zugegeben etwas skeptisch. Im Moment schauen wir in die Türkei und nach Griechenland und sehen, dass wir die Flüchtlingsprobleme nicht gelöst kriegen. Flüchtlinge werden weiter durchgeleitet. Deutschland steht mit seiner Aufnahmebereitschaft unter den 28 EU-Staaten annähernd alleine da. Die Bilder von Flüchtlingen wirken massiv auf die Menschen. Manchmal fehlen mir bei Diskussionen mit Bürgern inzwischen auch die Argumente. Es ist dann nicht einfach, die Bürger in der Statik des demokratischen Rechtsstaates zu halten.

Wird das Flüchtlingsthema den Bundestagswahlkampf 2017 noch bestimmen?

Das wird ein gewaltiges Thema sein. Wir haben einen ersten Warnschuss zu erwarten bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg am 13. März. Ich vermute, die AfD wird ein besseres Ergebnis bekommen, als derzeit in Umfragen vermutet. Ganze Gruppen in der Gesellschaft sind mit dem, was wir hier in Berlin produzieren, nicht einverstanden. Es ist möglich, dass viele bisherige Nichtwähler ihren Protest gegen das politische Establishment zum Ausdruck bringen. Das kann zur Bundestagswahl auch wieder passieren.

Was kann die Große Koalition tun?

Was mich ärgert ist, dass wir als bürgerliche Parteien mit einer derzeit so großen Mehrheit im Bundestag über Kinkerlitzchen streiten, statt eine "Agenda 2030" anzupacken. Die Asylpakete I und II reichen bei weitem nicht aus. Wir kriegen es nicht hin, mal ein paar Hunderttausend Wohnungen zu bauen. Es wäre jetzt mit den Mehrheiten und den Haushaltsüberschüssen an der Zeit, unsere Gesellschaft auf die Zukunft auszurichten. Bei der "Agenda 2030" muss der ganze Instrumentenkasten auf den Prüfstand gestellt werden, vom Arbeitsrecht bis zum Baurecht.

Schaffen wir das?

Wir sollten nicht nur reden, wir schaffen das, sondern im großen Maßstab die Dinge gestalten. Wir sind als Gesellschaft in schwere See geraten und ich hoffe, dass das Schiff Bundesrepublik Deutschland standhält.

Das Gespräch führte Claus Peter Kosfeld.

Klaus Brähmig (CDU) ist seit 1990 Mitglied des Bundestages und direkt gewählter Abgeordneter des Wahlkreises Sächsische Schweiz - Osterzgebirge.