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BUNDESTAG : Vater Staat und Mutterboden

Nach hitziger Debatte entschieden sich die Parlamentarier im Jahr 2000 für Hans Haackes Installation »Der Bevölkerung« im Innenhof des Reichstagsgebäudes

08.05.2017
2023-08-30T12:32:21.7200Z
4 Min

Von einer "Frechheit" ist die Rede, von "Bekenntnisrummel" und "Gesinnungs-TÜV": Hans Haackes Installation mit dem Schriftzug "Der Bevölkerung" im Innenhof des Reichstagsgebäudes ist im Jahre 2000 wohl das umstrittenste Kuntsobjekt der Republik. Grünes Licht für das Projekt gibt es erst nach einer namentlicher Abstimmung des Bundestages, die mit nur zwei Stimmen Mehrheit denkbar knapp für den Künstler ausfällt. Der Kunstbeirat des Bundestages hatte sich ursprünglich für die Realisierung ausgesprochen, doch eine Reihe von Abgeordneten, vor allem aus der Unionsfraktion, aber auch einige aus den Fraktionen von FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen hatten sich in einem Antrag dagegen gewandt.

Heute sorgt Haackes Projekt kaum noch für Wirbel: Von der Dachterrasse aus blickt man auf den inzwischen grün überwucherten Schriftzug in der von Holzbohlen eingefassten Fläche im nördlichen Innenhof. Noch immer sind die Abgeordneten eingeladen, dort Erde aus ihrem Wahlkreis zu streuen, 336 haben das über die Jahre auch getan. Der Schriftzug nimmt Bezug auf die 1916 installierte Giebelinschrift "Dem Deutschen Volke" über dem Westportal des Reichstagsgebäudes und Haacke wählt für seine Neonbuchstaben die gleiche Schrifttype, die der Architekt Peter Behrens damals eigens entworfen hatte. Aber in genau diesem Bezug sah im Jahre 2000 so mancher eine Herabsetzung des Volkes, einen Angriff auf die nationale Identität - obendrein noch ins Werk gesetzt mit einer irritierenden Anspielung auf ein Volk- und Bodenmetaphorik. All das sorgte in der Bundestagsdebatte für heftigen Streit - über das Selbstverständnis der Deutschen, ihren Umgang mit den Vergangenheiten von Kaiserreich, Diktaturen und Demokratie und der wechselvollen Geschichte ihres Parlamentes darin.

Der heutige Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU), damals kultur- und medienpolitischer Sprecher der Unionsfraktion, gab in der Debatte zu bedenken, dass die Abgeordneten sich auch ohne Haackes Aufforderung längst als "Vertreter aller Menschen in diesem Land" verstehen würden. "Wer wie Hans Haacke den Begriff 'Volk' unter nationalistischen, mindestens mythologischen Generalverdacht stellt, bleibt bewusst oder leichtfertig hinter dem Selbstverständnis unserer Verfassung und dieser Volksvertretung zurück", sagte Lammert. Er dürfe nicht erwarten, in diesem Zusammenhang ausgerechnet mit einer Bodeninstallation deutscher Erde aufklärerisch oder befreiend zu wirken. Lammert betonte, dass hier nicht die Freiheit der Kunst zur Debatte stehe "und hoffentlich auch nicht die Freiheit des Bundestages, den künstlerischen Gestaltungsvorschlag für sein Parlamentsgebäude anzunehmen oder abzulehnen". Dass der Bundestag souverän auch im Umgang mit ästhetischen Fragestellungen umgehe, habe unter anderem die weltweit bejubelte Verhüllung des Reichstages durch Christo im Jahre 1995 gezeigt, "die nach jahrzehntelangen vergeblichen Anläufen schließlich vom Plenum des Deutschen Bundestages möglich gemacht worden ist".

Der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) meldete aus einer "gewissen Überempfindlichkeit" aus seiner DDR-Erfahrung heraus Zweifel an der Angemessenheit politischer Entscheidungen über Kunst an: "Wie sähe die Kunstgeschichte aus, hätte das Entstehen von Kunstwerken jeweils von mehr oder minder politischen Mehrheitsentscheidungen von Gremien abgehangen?" Zu den kostbaren Vorzügen der Demokratie gehöre, dass in ihr "eine beträchtliche Sensibilität gegenüber den misslichen, den inkommensurablen politischen Entscheidungen über Kunst gewachsen" sei. Thierse gestand ein, dass er selbst "zwiespältig" auf das Projekt insbesondere auf die problematische "Erdemetaphorik" blicke. Das Kunstwerk beinhalte jedoch nicht wie von den Kritikern behauptet "die Tilgung, nicht die Umwidmung der Inschrift 'Dem Deutschen Volke', sondern einen Kommentar, eine Anstiftung zum Nachdenken, zum Bewusstmachen unserer demokratischen Verpflichtung, wie wir gemeinsam die Widmung unseres Parlamentsgebäudes 'Dem Deutschen Volke' verstehen".

Ähnlich argumentierte Ulrich Heinrich (FDP): "Wer heute aus 'Volk' 'Bevölkerung' macht, schafft das deutsche Volk noch lange nicht ab, sondern erweitert den Begriff in der Form, dass er auch unserem heutigen demokratischen Verständnis entspricht, und macht deutlich, für wen dieses Parlament arbeitet." Sein Fraktionskollege Hans-Joachim Otto sah das freilich anders: Es gehe um "ein Stück Selbstachtung dieses Parlaments auch gegenüber seiner eigenen Geschichte". Kunst habe durchaus das Recht und vielleicht auch die Pflicht, sich in Politik einzumischen. "Wir Politiker haben aber doch nicht die Pflicht, über jedes uns von Künstlern hingehaltene Stöckchen zu springen", sagte Otto.

Bogenschlag Heinrich Fink (PDS) erinnerte an die beiden Kunstschmiede, die 1916 die Lettern "Dem Deutschen Volke" in Metall setzten, "ab 1935 durch den Arierparagraphen zu Undeutschen degradiert" wurden. "Im Namen des nunmehr rassisch reinigenden deutschen Volkes ist der eine der Eisengießer in Plötzensee hingerichtet und der andere der Eisengießer in Theresienstadt ermordet worden", sagte Fink und zitierte Bertolt Brechts Satz aus dem Jahre 1935: "Wer in unserer Zeit statt Volk Bevölkerung sagt, unterstützt schon viele Lügen nicht." Fink warb dafür, in Haackes Modell "doch bitte einen komplementären Bogenschlag und nicht etwa die Absage an die Giebelwidmung" zu entdecken. "Alles, was wir im Bundestag entscheiden und als Gesetze festschreiben, ist doch für alle in Deutschland lebenden Menschen und nicht nur die Deutschen verbindlich. Für alle heißt: für die Bevölkerung", sagte Fink.

Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Bündnis 90/Die Grünen) attestierte dem Künstler immerhin einen "richtig schönen Erfolg", wenn sich an seinem Werk eine Debatte im Bundestag entzünde. In der Sache aber hatte sie Zweifel, ob es den Abgeordneten mit einem "Eimer oder einem Sack Erde" möglich sei, sich "von nationalen Begriffen und Überzeugungen quasi zu reinigen". Wer gegen das Kunstwerk sei, signalisiere damit nicht, dass er "rechts" sei. "Ich finde, wir sollten uns dieser Art 'Gesinnungs-TÜV' nicht unterziehen", sagte Vollmer. Hanna Wolf (SPD) setzte mit der Erinnerung an die Leipziger Montagsdemonstrationen 1989 und der Losung "Wir sind das Volk" noch einen ganz anderen Akzent: "Diese revolutionäre Tradition des Begriffs Volk möchte ich nicht begraben sehen", sagte Wolf.