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Duisburg-Marxloh : Kampf gegen das Image

Ein heruntergekommener Stadtteil leidet unter seinem Ruf. Soziale Projekte steuern dagegen

21.08.2017
2023-08-30T12:32:26.7200Z
5 Min

Hier ist jeder Vierte von 20.000 Einwohnern unter 19 Jahre alt. Wo gibt es das sonst in einem vergreisenden Deutschland? Viele der Kinder und Jugendlichen beherrschen zwei, drei, manchmal noch mehr Sprachen. Welch ein Schatz in einer globalisierten Wirtschaft. Halil Özet leitet eine Werbeagentur, genau an dieser Stelle, und hat mit einer Gruppe Kids einen Imagefilm über den Stadtteil gedreht, in dem die Jugendlichen gut drauf sind und rappen: "Wir sind cool und Mashallah", singen sie. Das Wort "Mashallah" stammt aus dem Arabischen und ist ein Ausruf der Verwunderung, der Bewunderung. Als Zugabe gibt es hier die romantischste Straße Europas - mit 30 Brautmodeläden, Tür an Tür. Aus Luxemburg, den Niederlanden, Frankreich kommen ganze Familien hier hin, um ihre Töchter in eine Wolke aus Tüll und Taft zu hüllen - für den schönsten Tag im Leben.

Dieser Ort heißt - Duisburg-Marxloh.

Entfremdung Seit gut zwei Jahren haben Entfremdung und Gewalt einen Namen. Das Areal gilt als verbotene Zone, als No-Go-Area. Der Begriff kommt ursprünglich aus der Soldatensprache und bezeichnet ein militärisches Sperrgebiet. Hier hat die Polizeigewerkschaft 2015 den Anglizismus ausgeliehen, um deutlich zu machen, dass sich Recht und Gesetz in diesem Viertel nur noch mit massivem Einsatz durchsetzen lassen. Armutszuwanderer aus Rumänien und Bulgarien nähmen sich ganz einfach, was sie bräuchten. Gewalt, Schläge, Messerstechereien gehören angeblich zum Alltag.

Die Stadt Duisburg zählte erst 100, später 45 sogenannte Schrottimmobilien. Spekulanten kauften die heruntergekommenen Häuser, lockten ganze Busladungen voller Menschen vom Balkan an die Ruhr, statteten sie mit Schein-Arbeitsverträgen aus, so dass sie staatliche Unterstützung bekommen - und bei ihren Schleppern abgeben. Sie selbst hausen zu 80, 90, manchmal 100 Menschen in den heruntergekommenen Hucken und zahlen Wuchermieten. Strom und Gas werden illegal angezapft. Libanesische Großfamilien beherrschten die Straßen - heißt es. Ein eigens aus Berlin angereister "Zeit"-Reporter berichtete von der "pittoresken Hässlichkeit" des Viertels.

Dieser Ort ist ebenfalls Duisburg-Marxloh.

Die Politik, die Polizei, die Medien haben den Stadtteil im Duisburger Norden für ihre Zwecke benutzt. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) machte sich das Etikett von der No-Go-Area auf dem CDU-Landesparteitag Nordrhein-Westfalen im April dieses Jahres zu Eigen. Möglichst drastisch sollte vor der Landtagswahl im Westen das Versagen der damaligen rot-grünen Landesregierung ins Rampenlicht gerückt werden. Der Dreiklang von der Unfähigkeit, den Terroristen Anis Amri unter Kontrolle zu halten, von angeblich steigenden Einbruchzahlen und eben rechtsfreien Räumen wie Duisburg-Marxloh ging den Wählern ins Ohr. Im Mai kam es in Düsseldorf zum Regierungswechsel.

Der Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in NRW, Arnold Plickert, bereitete mit Sätzen wie diesem den Boden dafür: "Es gibt keine Gegend, wo wir nicht mehr reinfahren als Polizei, aber es gibt Gegenden, die wir als No-Go Area bezeichnen. Die anderen sagen Angsträume, also Stadtteile, wo unsere Kolleginnen und Kollegen ungerne mit einem Streifenwagen reinfahren." Laut der Einschätzung von Beobachtern wollten örtliche GdP-Funktionäre mit möglichst drastischen Schilderungen für mehr Polizeibeamte sorgen. Das gelang; die Zahl der Ordnungshüter stieg. Und es wurde eine Einsatzhundertschaft eigens nach Duisburg Nord verlegt. Der Pressesprecher der Duisburger Polizei, Ramon van der Maat, zieht diese Bilanz: "Mit den zusätzlichen Kräften der Bereitschaftspolizei haben wir, glaube ich, schon eine ganz ordentliche Wirkung erzeugt, das heißt wir haben uns deutlich wieder Respekt verschafft. Wir haben in dem knappen halben Jahr 75 Personen festgenommen. Wir haben über 4.000 Ordnungswidrigkeiten beziehungsweise Verwarngelder erhoben."

Journalisten aus allen Himmelrichtungen und aller Medien rührten den Zerfall, den Krawall, die Spekulation mit Menschenleben und die daraus erwachsende Kriminalität zu Ghetto-Stories, die sich in ihren Schilderungen gegenseitig überboten. "Teilweise reisten die Journalisten mit einem vorgefertigten Drehbuch im Kopf hier an", hat Lena Wiewell beobachtet. Die 32 Jahre alte Architektin wohnt seit 2014 in Duisburg-Marxloh und engagiert sich im Verein "Tausche Bildung für Wohnung". Sie schrieb einen bösen Leserbrief an den im Ghetto-Sujet badenden "Zeit"-Journalisten und zitierte ihn ein zweites Mal nach Duisburg-Marxloh. "Ich möchte Sie ermuntern, eine Offenheit zuzulassen, die ein anderes Marxloh zeigt. Ein kreatives, offenes, lachendes, sonniges und vor allem stolzes Marxloh", schrieb sie an den Autor, der sich pflichtschuldigst nochmal auf den Weg in den staubigen Westen machte.

Denn die Geschichte vom Ghetto Duisburg-Marxloh, dem rechtsfreien Raum, sei zu eindimensional. Mit diesem Hinweis sollen die Probleme nicht zugedeckt werden, sagt Lena Wiewell. "Doch man darf die positiven Seiten des Viertels nicht einfach ausblenden", ergänzt der Rentner Uwe Heinrich aus dem Nachbarstadtteil Duisburg-Neumühl, der sich in einem Marxloher Kindergarten als Vorlesepate engagiert, ehrenamtlich Flüchtlingen hilft und im Sportverein aktiv ist. Oliver Potschien, den sie hier alle nur "Pater Oliver" nennen, ist Seelsorger der Pfarrkirche St. Peter und Chef im "sozial-pastoralen Zentrum Petershof". Er hält allen Journalisten eine Statistik des Bundeskriminalamtes hin. Aus den Zahlentabellen geht hervor, dass die Kriminalität in Duisburg-Marxloh nicht höher ist als im Mittel der gesamten Stadt Duisburg. Und deren Durchschnitt aller Straftaten liegt auf dem Niveau von Stuttgart oder Karlsruhe. Interessiert hat das jedoch keinen Schlimmschreiber.

In St. Peter sitzen alte und neue Duisburger nebeneinander auf den Kirchenbänken. Hier wird niemand abgewiesen. Und auch das Schlimmste aller Feindbilder, das vom Libanesen-Clan, bricht Pater Oliver, indem er im Gottesdienst eine libanesische Familie nach vorne bittet. Einige Tage zuvor hat er ihr jüngstes Kind getauft. Nun sollen die Christen abgeschoben werden, zurück in den Libanon, wo sie wegen ihres Glaubens verfolgt wurden. Und wieder sein werden. Man werde alles tun, um dies zu verhindern, sagt der Pater. Im Petershof gibt es eine Hausaufgabenhilfe und Freizeitangebote. Der Verein "Tausche Bildung für Wohnung" von Lisa Wiewell lädt junge Menschen ein, ein freiwilliges soziales Jahr zu leisten, versorgt sie mit einer der zahlreich leerstehenden Wohnungen und verpflichtet die so Unterstützten, als Paten für Flüchtlingskinder zu arbeiten, mit ihnen Hausaufgaben zu machen, zu lesen, zu spielen.

Samstags machen sie gemeinsam regelmäßig Ausflüge. So entstehen die vielen positiven Geschichten aus Marxloh. Die von dem kleinen türkischen Mädchen, das hier 1978 zum ersten Mal in den Bücherbus nutzte, um sich Literatur auszuleihen. Unter dem Antrag für den Bibliotheksausweis hatte sie die Unterschrift des Vaters gefälscht, weil sie Angst hatte, er würde ihr mehr als den Koran nicht gestatten.

Oder die des zwölfjährigen Rafiz, der zur Grillo-Gesamtschule in Duisburg-Marxloh geht und dort mittlerweile Klassenbester in Deutsch ist. Rafiz traf neulich Verena Haumann (69) wieder, die in der Grundschule Henriettenstraße seine Sprachpatin war. "Sein Problem war damals das Schriftliche", sagt die pensionierte Bankangestellte, die im Sprachpaten-Projekt des Duisburger Kinderschutzbundes mitarbeitet.

Und dann ist sie stolz; in erster Linie auf ihren ehemaligen Schützling. Und ein bisschen ist sie auch stolz darauf, das schiefe Bild von Marxloh als "Deutschlands gefährlichstem Viertel" ein wenig korrigiert zu haben.