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Kosovo : Keine Feierlaune

Im jüngsten Staat Europas läuft es nicht rund. Viele Kosovaren sitzen auf gepackten Koffern

11.09.2017
2023-08-30T12:32:26.7200Z
5 Min

Am 17. Februar feiert der jüngste Staat Europas seinen zehnten Geburtstag. Feierlaune kommt im Kosovo aber nicht auf. Trotz der Bemühungen der internationalen Gemeinschaft, allen voran der EU, hat sich nur wenig zum Guten entwickelt. Selbst in der Hauptstadt Pristina fällt regelmäßig der Strom aus, und abends kommt kein Wasser aus den Hähnen.

Das Kosovo konkurriert mit Moldawien um den wenig ruhmreichen Titel "Ärmstes Land Europas". Zwar hält die EU an einer Beitrittsperspektive des Kosovo fest, doch weder in Brüssel noch in Pristina rechnet man damit, dass das Kosovo in den kommenden 20 Jahren die Bedingungen für einen EU-Beitritt erfüllen wird.

Viele Bürger fragen zurecht, wo die Milliarden geblieben sind, welche die EU seit 1999 in das Land investiert hat, das gerade einmal so viele Einwohner wie Hamburg zählt. Unsummen verschwanden in den Taschen korrupter Politiker und ihrer jeweiligen Klientel.

Im Parlament läuft es ohnehin nicht rund: Oppositionelle Politiker werfen regelmäßig Tränengasgranaten, um die Verabschiedung von Gesetzen zu verhindern, die ihnen nicht genehm sind. So lief es über ein Jahr, bis die Regierungskoalition am 10. Mai dieses Jahres an einem Misstrauensvotum scheiterte.

Für die lähmende Totalopposition im Parlament und auf der Straße ist die Partei Vetevendosje (VV/Selbstbestimmung) verantwortlich, die sich bei jungen Kosovaren größter Beliebtheit erfreut, weil sie nicht als korrupt gilt. Laut ihrem Selbstverständnis ist die VV eine linke Partei, die sich für soziale Gerechtigkeit und gegen Korruption einsetzt. In den Augen der EU ist es eine nationalistische Partei, welche die Grenzen auf dem Balkan nicht akzeptiert und einen Zusammenschluss mit Albanien fordert (siehe Text unten).

Auch nach den Neuwahlen ist die Situation im Kosovo nicht stabiler. Die stärkste Kraft wurde eine gemeinsame Liste um die UÇK-Parteien PDK, AAK und Nisma - der sogenannte Kriegsflügel - die 34,6 Prozent der Stimmen holen konnten. Zweitstärkste Kraft wurde die VV, die mit 26,7 Prozent ihren Stimmenanteil verdoppeln konnte. Nach fünf Anläufen und drei Monaten konnte der sogenannte Kriegsflügel sich vergangene Woche mit kleineren Parteien einigen und hat voraussichtlich 63 der 120 Abgeordneten hinter sich. Ob die Koalition vier Jahre hält, steht in den Sternen. Experten halten das Zweckbündnis für denkbar instabil.

EU trägt eine Mitschuld Kritiker behaupten, dass die Situation auf dem Kosovo nicht trotz, sondern wegen der westlichen Politik so schlecht ist. Demnach sind USA und EU mit der Verwaltung des kleinen Territoriums gescheitert, weil sie ihre Politik auf bestehende Machtstrukturen und somit auf fragwürdigen UÇK-Warlords aufgebaut hatten, denen eine Nähe zum organisierten Verbrechen nachgesagt wird.

So gilt der Noch-Präsident Hashim Thaçi vielen Kosovaren mehr als Mafiaboss denn als Politiker. Ihm wird zudem vorgeworfen, als Führer der UÇK für schwere Kriegsverbrechen an Oppositionellen, Roma und Serben beteiligt gewesen zu sein. Obwohl die EU mit EULEX eine teure Rechtsstaatsmission im Land unterhält, wurden die Vorwürfe bislang nicht intensiv untersucht. Zeugen, die beim Kriegsverbrechertribunal gegen ranghohe UÇK-Mitglieder wie den Ex-Präsidenten Ramush Haradinaj aussagen sollten, starben mysteriöse Tode. Andere zogen ihre Aussagen daraufhin zurück. Zähneknirschend haben die Mächtigen im Kosovo kürzlich der Gründung eines internationalen Gerichts zugestimmt, das die Verbrechen der UCK, der selbsternannten Befreiungsarmee des Kosovo, während des Kosovokrieges untersuchen soll.

Konflikt mit Serbien Doch Probleme gibt es nicht nur in Pristina, sondern auch im Norden des Landes. Dort leben noch rund 60.000 Serben. Sie stellen die Bevölkerungsmehrheit auf rund 20 Prozent des kosovarischen Territoriums. Es ist ein gallisches Dorf, dessen Bewohner aus Belgrad alimentiert werden, das den Kosovo bis heute nicht anerkennt und weiterhin als sein Staatsgebiet betrachtet. Die meisten Serben im Nordkosovo streben nach einem Anschluss an Serbien oder zumindest nach Autonomie. Der serbische Außenminister Ivica Dacic sorgte bei vielen EU-Vertretern im August für Kopfschütteln, als er vorschlug, den hauptsächlich von Serben bewohnten Norden vom Rest des Landes zu trennen und im Gegenzug den Rest des Kosovo anzuerkennen. Doch nicht nur Serbien sieht das Kosovo weiterhin als sein Staatsgebiet an. Auch die EU-Staaten Spanien, Rumänien, Griechenland, die Slowakei und Zypern erkennen das Kosovo nicht an. Das beschädigt die Glaubwürdigkeit einer EU-Beitrittsperspektive für das Kosovo immens.

Die Kosovaren sitzen auf gepackten Koffern. Anfang 2015 gab es einen Massenexodus aus dem Land, als Zehntausende in Richtung Deutschland, Österreich und Schweiz aufbrachen und Asyl beantragten. Die meisten waren ethnische Albaner und keine Roma, die sonst die größte Gruppe an Asylantragsstellern aus der Region bilden.

Nach wenigen Monaten sprach sich herum, dass Kosovaren kaum eine realistische Chance auf Asyl haben, die Bundesregierung verschärfte ihre Asylpolitik gegenüber dem Balkan, indem viele Länder zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt wurden, und die Asylgesuche aus dem Kosovo gingen schlagartig wieder zurück. Wenig Verständnis haben die Kosovaren dafür, dass sie nicht visafrei in die EU einreisen dürfen, nachdem den Ukrainern dieses Recht kürzlich gewährt wurde.

Zulauf für Islamisten Während Zehntausende Kosovaren ihr Glück gerne im EU-Ausland versuchen wollen, gibt es auch einige hundert, die visafrei nach Istanbul geflogen sind und von dort aus weiter nach Syrien und in den Irak, um sich dschihadistischen Gruppen anzuschließen.

Mittlerweile hält der Kosovo die höchste Pro-Kopf-Dichte an IS-Kämpfern in Europa: Es gibt 316 bestätigte Fälle von kosovarischen Staatsbürgern, die sich dschihadistischen Gruppen in Syrien und im Irak angeschlossen haben, bei gerade einmal 1,8 Millionen Einwohnern. Derzeit sollen sich noch 75 Dschihadisten aus dem Kosovo im Irak und in Syrien befinden, 40 Frauen und 29 Kinder mit ihnen gegangen sein. Laut Angaben der Sicherheitsbehörden sind 57 Männer aus dem Kosovo als IS-Kämpfer gestorben.

Der im Kosovo ausgebildete Imam Visar Duriqui hat selbst erlebt, wie Mitschüler radikalisiert wurden. Einige seiner Mitschüler schlossen sich der Terrormiliz "Islamischer Staat" an und ließen ihr Leben für einen irren Traum vom Kalifat. Duriqui wählte einen anderen Weg, er wurde Journalist und berichtet heute in Pristina über Islamismus. Der 30-Jährige kritisiert: "Die Saudis brachten diese Ideologie hierher. Ohne sie hätte der IS hier nicht solche Rekrutierungserfolge feiern können."

Das Kosovo ist ein säkulares Land und die meisten Bürger lehnen Salafismus und "Islamischen Staat" entschieden ab. Allerdings konnten salafistische und wahabitische NGOs aus Saudi-Arabien lange Zeit recht problemlos für sich werben, und diese Saat ist nun aufgegangen.

Die meisten Bürger des Kosovo schwanken zwischen Resignation und Protest. Das Kosovo ist nicht nur der jüngste Staat Europas, es ist auch der Staat mit der jüngsten Bevölkerung und einer Jugendarbeitslosenquote von annähernd 60 Prozent. Die Jugend fordert Perspektiven und ist bereit, dafür wieder auf die Straße zu gehen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder die Gasmasken hervorholt und die nächsten Massenproteste anstehen. Es sieht derzeit nämlich nicht so aus, als würde sich die Situation in naher Zukunft bessern.

Der Autor arbeitet als freier Korrespondent für den westlichen Balkan.