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GESELLSCHAFT : Gebildete Ungebildete

Der formale Bildungsgrad der Deutschen hat sich erhöht. Kritiker bemängeln aber massive Defizite

04.12.2017
2023-08-30T12:32:30.7200Z
6 Min

Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann 'ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen." Im Januar 2015 verbreitete sich diese Twitter-Nachricht der 17-jährigen Gymnasiastin Naina aus Köln viral in den sozialen Medien und löste einmal mehr eine veritable Debatte über den Lehrstoff an Deutschlands Schulen aus. Selbst Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) sah sich zu einer Stellungsnahme genötigt: "Ich finde es sehr positiv, dass Naina diese Debatte angestoßen hat. Ich bin dafür, in der Schule stärker Alltagsfähigkeiten zu vermitteln. Es bleibt aber wichtig, Gedichte zu lernen und zu interpretieren."

Ob nun wissentlich oder nicht hat die junge Schülerin quasi eine moderne Variante jener Kritik an der Schule formuliert, die so alt ist wie Bildungseinrichtungen selbst. "Non scholae, sed vitae discimus." Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir. Über den Eingangsportalen vieler älterer Schulgebäude ist dieser Leitspruch in Latein zu lesen. Und mit etwas Glück werden die Schüler dieser Schulen auch lernen, dass dies eine bewusste Umkehrung jener Kritik des römischen Philosophen Seneca darstellt, die dieser in einem Brief an einen Zeitgenossen bereits im ersten Jahrhundert nach Christus formulierte: "Non vitae, sed scholae discimus." Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir, schrieb Seneca über die römischen Philosophenschulen seiner Zeit.

In seinem neuen Buch "Bildung als Provokation" hinterfragt der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann, bekannt für seine kritischen Einlassungen zur Bildungsdebatte, diese Diskussion über den unmittelbaren Nutzen von Bildung: "Ist es das was wir unter Bildung verstehen wollen? Und liegt das Problem nicht darin, dass Bildung ohnehin seit langem eher an den Erfordernissen der Märkte und den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen als an vermeintlich antiquierten Inhalten und angeblich unbrauchbaren Kenntnissen gemessen wird?"

Arbeitsmarkt Einer jener Märkte, an dessen Erfordernissen sich das Bildungswesen messen lassen muss, ist der Arbeitsmarkt. Und dort gilt die einfache Regel, dass der Grad des Bildungs- oder Ausbildungsabschlusses entscheidend ist, wer einen Arbeitsplatz findet und wer nicht. Dies wird durch die aktuellen Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg einmal mehr bestätigt. So lag im Jahr 2016 die Arbeitslosenquote von Akademikern bei 2,3 Prozent und damit deutlich unter der durchschnittlichen Arbeitslosenquote von 6,1 Prozent. Unter dieser Marke liegt auch die Arbeitslosenquote von Menschen mit einer abgeschlossen Berufsausbildung. Sie lag im vergangenen Jahr bei 4,2 Prozent. Die Sorgenkinder auf dem Arbeitsmarkt sind Menschen ohne abgeschlossene Ausbildung: Bei ihnen lag die Arbeitslosenquote bei 19,1 Prozent. "Bildung ist der beste Schutz vor Arbeitslosigkeit", betont Enzo Weber, Leiter des IAB-Forschungsbereiches Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen. "Das gilt in Zukunft umso mehr, da die Anforderungen in der Arbeitswelt weiter steigen werden, nicht zuletzt durch die Digitalisierung."

Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass auch die Anforderungen an das Bildungswesen steigen. Ein Blick in den "Bildungsbericht 2016" scheint zu bestätigen, dass es dieser Anforderung auch gerecht wird: "Der Bildungsstand der Bevölkerung in Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich erhöht", steht da zu lesen. So verfügten beispielsweise 2014 in der Gruppe der 30- bis 35-Jährigen knapp 45 Prozent über die Hochschul- oder Fachhochschulreife. In der Alterskohorte der 60- bis 65-Jährigen waren es hingegen gerademal 23 Prozent. Die Autoren des Bildungsberichts führen dies vor allem auch auf den höheren Anteil jüngerer Frauen mit Hochschul- oder Fachhochschulreife zurück, der den Anteil der gleichaltrigen Männer inzwischen sogar übersteigt. Doch reicht dies als Erklärung aus?

Seit der Deutschen Einheit ist der Anteil der Schüler, die die allgemeine Hochschul- oder die Fachhochschulreife erwerben, sprunghaft angestiegen. Waren es 1992 noch 31 Prozent der Schüler, stieg ihre Anteil bis zum Jahr 2000 bereits auf 37 Prozent, 2005 auf knapp 43 Prozent, 2010 auf 49 Prozent und 2015 über 53 Prozent. Das einst so elitäre Abitur wird zunehmend zum Regelabschluss im deutschen Schulsystem. Und nicht nur das. Auch der Durchschnitt der Abiturnoten hat sich in den vergangenen Jahren ständig verbessert. Schloss im Jahr 2006 etwa nicht einmal jeder hundertste Abiturient mit einem Notendurchschnitt von 1,0 ab, so waren es 2014 schon 50 Prozent mehr.

Deutschlands Schüler, so könnte man angesichts dieser Befunde meinen, werden immer intelligenter. Tatsächlich arbeitete Mitte der 1980er-Jahre der neuseeländische Politologie James R. Flynn anhand der Ergebnisse von Intelligenztests aus 14 Industrienationen heraus, dass die IQ-Werte der Menschen in der ersten drei Vierteln des 20. Jahrhunderts von Generation zu Generation zunahmen. Einen wissenschaftlichen Konsens über die Ursachen für diesen in der Wissenschaft als Flynn-Effekt beschriebene Phänomen gibt es nicht. Als mögliche Erklärungen werden unter anderem die Verbesserungen im Bildungswesen, in der Ernährung und im Gesundheitswesen oder die Entwicklung der Massenmedien genannt.

Als Erklärung für die "Inflation" bei den Abitur-Noten, vor der der Deutsche Philologenverband seit Jahren warnt, taugt der Flynn-Effekt nun aber wahrlich nicht. Schon allein deshalb, weil sich innerhalb Deutschlands deutliche Unterschiede zwischen den Bundesländern zeigen. Vor allem in Berlin, Brandenburg und Thüringen haben sich die Durchschnittsnoten im Abitur in den vergangenen zehn Jahren auffällig deutlich verbessert. Regionale Unterschiede lassen sich auch bei der Zahl jener Schüler machen, die eine Klasse wiederholen müssen. Im Saarland halbierte sich deren Anteil annähernd in der vergangenen Dekade.

PISA-Schock Einen deutlichen Zusammenhang stellen viele Bildungsexperten hingegen mit den Ergebnissen mit dem sogenannten "PISA-Schock" von 2001 her. Die Schulleistungsuntersuchung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) bescheinigte, dass es im Land der Dichter und Denker nicht zum besten steht mit der Bildung. Deutschlands Schüler im Alter von 15 Jahren schnitten im Vergleich mit anderen Industrienationen wie Japan, Finnland oder Kanada bei der Lesekompetenz, in Mathematik und den Naturwissenschaften nicht nur deutlich schlechter ab, sondern lagen sogar unterhalb des OECD-Durchschnitts.

Die Politik sah sich genötigt, auf die krachende Ohrfeige für das deutsche Schulsystem zu reagieren. Die Kultus- und Bildungsminister in Bund und Ländern rückten den Lehrplänen zu Leibe. Statt der Vermittlung von Fachwissen, wurde jetzt die Vermittlung von Kompetenzen und deren Anwendung in den Vordergrund gestellt. Kritiker dieser Kompetenzorientierung wie der Didaktiker Hans Peter Klein von der Goethe-Universität Frankfurt am Main sehen hierin eine Ursache für die sich verbessernden Notendurchschnitte. Das Fachwissen hingegen nehme bei den Schülern ebenso ab wie das Niveau von Prüfungen. Umgekehrt gehört Deutschland zu jenen wenigen Ländern, die ihre Ergebnisse bei den Pisa-Studien in den vergangenen Jahren deutlich verbessern konnten.

In der Folge des PISA-Schocks und der Mahnung der OECD, Deutschland habe im Vergleich zu anderen führenden Industrienationen zu wenige Studenten, erleichterten viele Bundesländer zudem den Zugang zum Gymnasium und zum Abitur. Die klassische Dreiteilung des Schulsystems in Hauptschule, Realschule und Gymnasium wurde durch neue Schulformen erweitert oder gar ersetzt, die einem größeren Schülerkreis das Abitur ermöglichen sollten.

Das Lamento über das sinkende Niveau der Schulabschlüsse deckt sich mit den Klagen von Universitäten und Arbeitgebern. "Trotz gestiegener guter Schulabschlüsse steigt die Anzahl der jungen Menschen, die gleich zu Beginn einer Berufsqualifikation in Unternehmen oder Hörsälen mit fehlenden Grundlagenkompetenzen hinsichtlich Sprache und Mathematik zu kämpfen haben", beklagen die Autoren einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung zur "Studierfähigkeit und Ausbildungsfähigkeit" aus dem Jahr 2016.

Studienabbruch Nach einer aktuellen Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) bricht rund ein Drittel aller Studierenden sein Studium bereits in der Frühphase ab und orientiert sich neu. An den Universitäten liegt die Abbrecherquote bei 32 Prozent, an den Fachhochschulen bei 27 Prozent. Besonders stark betroffen sind die mathematisch-naturwissenschaftlichen Studiengänge mit einer Quote von 39 Prozent an den Universitäten und 42 Prozent an den Fachhochschulen. In 30 Prozent aller Studienabbrüche seien "unbewältigte Leistungsanforderungen" die Ursache gefolgt von mangelnder Motivation (17 Prozent).

So wundert es nicht, dass Hochschulen und Betriebe sich nicht mehr auf die Noten der schulischen Abschlusszeugnisse ihrer Bewerber verlassen, sondern auf eigene Eignungstests zurückgreifen.

Der PISA-Schock von 2001 offenbarte einmal mehr, dass die schulische Laufbahn in Deutschland massiv durch Herkunft und Elternhaus geprägt ist - und zwar so stark wie in nur wenig anderen Ländern. Der formale Bildungsgrad der Eltern ist in vielen Fällen ausschlaggebend bei der Frage, auf welche Schule sie ihre eigenen Kinder schicken. Besonders stark betroffen von diesem Phänomen sind Kinder aus Migrantenfamilien. Der Einfluss der sozialen Herkunft hat sich seit der ersten Pisa-Studie zwar leicht verringert, er ist im internationalen Vergleich immer noch stark. Sorgen bereitet auch die recht hohe Zahl von Jugendlichen, die die Schule ohne Abschluss verlassen - auch wenn dieser Anteil von acht Prozent im Jahr 2006 auf sechs Prozent im Jahr 2014 (47.000 insgesamt) gesenkt werden konnte.