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KURDEN : In der Spirale

Der Friedensprozess ist neuer Gewalt gewichen

27.02.2017
2023-08-30T12:32:16.7200Z
7 Min

Fremde kommen selten nach Nusaybin, und man kann es ihnen auch nicht empfehlen. Diese Stadt in der südöstlichen Türkei an der syrischen Grenze mit rund 90.000 Einwohnern ist gesichert wie eine Garnison. Überall patrouillieren gepanzerte Fahrzeuge der hochgerüsteten Antiterrorpolizei. Rathaus, Gericht, jede Polizeistation werden mit Betonbarrieren geschützt, während große Teile der Stadt Ruinenlandschaften sind wie in Aleppo. Auch wer sich nur kurz in der Stadt aufhält, spürt die nervöse Spannung. Hunderte junge Kurden führten hier im Frühjahr 2016 einen bewaffneten Aufstand gegen den Staat, der mit Panzern und Artillerie brutal niedergeschlagen wurde.

Der kurdische Bevölkerungsanteil in Nusaybin beträgt rund 90 Prozent, viele haben Verwandte auf der anderen Seite der Grenze in der syrischen Schwesterstadt Kamischli, der inoffiziellen Hauptstadt von "Rojava", wie sich die drei Kurdenkantone Syriens nennen, die sich 2013 für autonom erklärten. Dort herrscht seit Beginn der Rebellion in Syrien 2011 die sozialistische Partei der Demokratischen Union (PYD), eine Schwesterpartei der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK in der Türkei. Das ist der wichtigste Grund für die massiven Sicherungsanlagen, die die Türkei an der Grenze errichtet. Aber sie nützen wenig gegen das Einsickern der Autonomie-Idee.

Wie unter einem Brennglas kann man in Nusaybin den ungelösten Kurdenkonflikt der Türkei studieren. Bei den jüngsten Wahlen trug die linke prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) hier wie in anderen Grenzorten einen Erdrutschsieg mit knapp 90 Prozent der Stimmen davon. Doch die Regierung in Ankara hat nicht nur in Nusaybin die gewählten HDP-Bürgermeister inzwischen durch staatliche Verwalter eingesetzt und viele Mitglieder der zweitgrößten Oppositionspartei des Landes ins Gefängnis werfen lassen, weil sie angeblich PKK-Terroristen unterstützten. Nusaybin ist eine belagerte Stadt.

Nicht anerkannt Doch die kurdische Frage drängt nach einer Lösung. Mit etwa 30 Millionen Menschen sind die Kurden das größte Volk der Welt ohne eigenen Staat. In der Türkei leben rund 18 Millionen Kurden, die übrigen verteilen sich auf den Irak, den Iran, Syrien, Armenien und Aserbaidschan. Autonomiebestrebungen sind nirgends gut angesehen, denn sie würden nicht ohne Anziehungskraft für die Kurden in den Anrainerstaaten bleiben.

In der Türkei wurden die Kurden nach der Republikgründung 1923 nicht als ethnische Minderheit anerkannt, Kurdisch durfte nicht auf der Straße gesprochen werden, schon das Wort "Kurdistan" machte (und macht) die 1978 gegründete marxistische Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) illegal. Die auch in den USA und Europa verbotene Gruppe gilt den einen als brutale Terrororganisation, anderen als Freiheitsbewegung und Hoffnungsträgerin. Ihr Chef Abdullah Öcalan begann 1984 einen bewaffneten Guerillakampf gegen den türkischen Staat, der bis heute mehr als 45.000 Tote kostete.

Der 68-jährige Öcalan verbüßt seit 1999 eine lebenslange Freiheitsstrafe auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer vor Istanbul in weitgehender Isolation. Trotzdem ist sein Einfluss auf die Kurden in der Türkei ungebrochen. "Er ist und bleibt unser Präsident", sagt Abdullah Demirbas, Ex-HDP-Bürgermeister der Altstadt der Kurdenhochburg Diyarbakir. Seitdem sich die PYD in Syrien etablierte, ist Öcalans politische Bedeutung weiter gewachsen.

Längst hat der PKK-Chef der Gewalt abgeschworen und propagiert statt Separatismus die kommunale Selbstverwaltung und die Gleichberechtigung der Geschlechter. Neben der bewaffneten PKK gab es innerhalb der linken kurdischen Bewegung immer auch Aktivisten, die ähnliche Ziele verfolgten, aber auf parlamentarische und zivilgesellschaftliche Arbeit setzten. Doch hatten prokurdische Parteien lange Zeit wegen ihrer Nähe zur PKK nie eine Chance, die Zehnprozenthürde bei Parlamentswahlen zu überspringen. Das änderte sich, als Öcalan 2014 durchsetzte, die HDP für andere gesellschaftliche Gruppen und ethnische Minderheiten in der gesamten Türkei zu öffnen. Mit dem jungen Menschenrechtsanwalt Selahattin Demirtas fand die Partei einen charismatischen Co-Parteichef, der linke und säkulare Wähler auch in der Westtürkei ansprach.

Zu jener Zeit führte die Regierung noch Friedensgespräche mit der PKK-Führung in den nordirakischen Kandil-Bergen. Der damalige Minister- und spätere Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hatte zu Beginn seiner Amtszeit versprochen, das Kurdenthema friedlich zu lösen. Er räumte ein, dass es ein ,,Kurdenproblem" gebe, entkriminalisierte den Gebrauch der kurdischen Sprache, ließ kurdische Medien zu und investierte massiv in die Infrastruktur des Südostens. So gewann er viele Kurden für sich. 2010 ging er einen entscheidenden Schritt weiter. Damals begannen Geheimtreffen zwischen dem Geheimdienst MIT und der PKK in Oslo, um den bewaffneten Konflikt zu beenden. Sie wurden ab 2013 offiziell in der Türkei fortgesetzt und liefen immer über Öcalan, der seitens der PKK einen Waffenstillstand bekannt gab.

Wahlsieger HDP Erdogan glaubte, dass der populäre Friedensprozess seiner islamisch-konservativen Regierungspartei AKP bei den Wahlen im Juni 2015 die kurdischen Stimmen zutreiben und ihm ermöglichen würde, das von ihm angestrebte exekutive Präsidialsystem einzuführen. Doch diese Rechnung ging zunächst nicht auf. HDP-Co-Chef Demirtas gelang es mit der Losung "Herr Erdogan, mit uns wird es keine Super-Präsidentschaft geben" 13 Prozent der Stimmen zu erreichen und in den mehrheitlich kurdischen Provinzen Wahlsieger zu werden. Erdogans AKP, auch wegen ihrer konservativ-religiösen Agenda der einzige ernstzunehmende HDP-Konkurrent im Südosten, büßte erstmals seit 2002 die parlamentarische Mehrheit ein.

Für Erdogan war das eine Katastrophe. Einen brutalen Mord der PKK an zwei Polizisten nahm er wenig später zum Anlass, sein wichtigstes innenpolitisches Projekt aufzukündigen. Er kehrte zur nationalistischen Sprache zurück, ließ Hunderte Kurden verhaften und führte seit Mitte Juli 2015 wieder Krieg.

Doch der eigentliche Bruch fand schon im Herbst 2014 statt. Damals verspielte Erdogan die Sympathien von Millionen Kurden, als er der syrisch-kurdischen Grenzstadt Kobane keine militärische Hilfe gegen die Angreifer des IS gewährte. Seinen Satz "Kobane wird bald fallen" werden ihm viele Kurden nie verzeihen. Doch die kurdischen YPG-Milizen konnten den IS schließlich mit US-amerikanischer Luftunterstützung aus Kobane vertreiben.

Damals verloren auch die militärischen PKK-Führer Cemil Bayik und Murat Karayilan das Vertrauen in den Friedensprozess und bereiteten sich wieder auf Krieg vor. Sie waren ohnehin skeptisch, da Erdogan keine substantiellen Zugeständnisse etwa bei der geforderten Amnestie für Guerillakämpfer gemacht hatte. Obwohl der Wahlerfolg der HDP 2015 ein klares Zeichen war, dass viele Menschen sich Frieden wünschten, waren weder die PKK-Führung noch Erdogan bereit, dies zu akzeptieren.

Während die Kampfjets wieder bombten und die Guerilla Sprengstoff zündete, präsentierten mehrere kurdische Bürgermeister in der Begeisterung über den Wahlerfolg "Autonomieerklärungen", in denen sie ihre Gemeinden für unabhängig erklärten. Als die Polizei daraufhin kurdische Aktivisten verhaftete, hoben jugendliche PKK-Anhänger in einem Dutzend Städten Gräben aus und errichteten Barrikaden; die HDP hinderte sie nicht daran.

Kurz nach der neuerlichen Parlamentswahl im November 2015, in der die AKP die absolute Mehrheit zurückholte, befahl Erdogan der Armee, die Aufstände niederzuschlagen. Die Regierung verhängte monatelange Ausgangssperren, ließ Artillerie, Hubschrauber und sogar Kampfjets kurdische Wohnviertel in Grund und Boden bombardieren. Tausende Menschen starben, ein Dutzend Städte wurden zu großen Teilen verwüstet. Seither herrscht Resignation und Enttäuschung in den Kurdengebieten - auch über die HDP, die sich wieder auf die Linie der PKK hatte zwingen lassen.

Immerhin äußerten sich die HDP-Führer nach PKK-Terroranschlägen so kritisch über die Guerilla wie nie zuvor eine kurdische Partei. Doch Erdogan nutzte die nationalistische Stimmung angesichts der Kämpfe, um die HDP mit der PKK gleichzusetzen und die Immunität fast aller HDP-Parlamentarier im Juni 2016 mit Hilfe der anderen Oppositionsparteien aufheben zu lassen - der Versuch, die Partei zu zerstören, ohne sie zu verbieten.

Nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 bestand für einen Moment die Chance, den "Lösungsprozess" neu zu beleben. Doch Erdogan grenzte stattdessen die HDP aus dem gesellschaftlichen Nach-Putsch-Konsens aus und rückte sie immer stärker in die Nähe von Terroristen, um sich die Nationalistenstimmen für sein Verfassungsreferendum zu sichern.

Abgeordnete in Haft Die HDP-Chefs Figen Yüksekdag und Selahattin Demirtas sowie zehn weitere HDP-Abgeordnete sind seit November inhaftiert. Fast alle gewählten HDP-Bürgermeister wurden durch staatliche Zwangsverwalter ersetzt, mehr als 2.500 Parteimitglieder verhaftet. Der HDP-Abgeordnete Ziya Pir hält die Auswirkungen für katastrophal. "Die jungen, aber auch viele ältere Kurden wenden sich immer stärker vom gemeinsamen Staat Türkei ab und dem kurdischen Nationalismus zu, was wir nicht für richtig halten."

Doch jeder in der Türkei weiß, dass weder Parteiverbote, Massenverhaftungen noch Bombardements die Spirale der Gewalt in der Vergangenheit stoppen konnten. Obwohl das seit 30 Jahren so geht, reden die AKP-Politiker wieder von der "endgültigen Ausmerzung des Terrors". Doch die Entwicklungen in Syrien, wo die USA und Russland mit den YPG-Milizen zusammenwirken, haben Auswirkungen auf die Stellung der PKK und sprechen dafür, dass die Lösung des Kurdenkonflikts in der Türkei nach dem Verfassungsreferendum wieder auf die Tagesordnung rücken könnte.

Derzeit lässt Ankara keine Bereitschaft dazu erkennen. Mitte Februar entzog die gelenkte Justiz der inhaftierten HDP-Co-Chefin Figen Yüksedag nach einer Verurteilung wegen "Terrorpropaganda" das Parlamentsmandat - ein einmaliger Vorgang. Gleichzeitig verurteilte ein anderes Gericht Selahattin Demirtas zu fünf Monaten Gefängnis wegen "Herabwürdigung der türkischen Nation", sodass er ebenfalls in den Referendumswahlkampf nicht eingreifen kann. Doch das verschafft Erdogan allenfalls vorübergehende Entlastung. "Jetzt versucht der Staat, alle unsere Politiker einzusperren", sagt ein älterer Kurde in Nusaybin. "Was glauben die denn, was das bei uns auslöst?"

Der Autor lebt als Türkei-Korrespondent der "Berliner Zeitung" und der "Frankfurter Rundschau" in Istanbul.