Piwik Webtracking Image

AnschlaG in Berlin : Verpasste Gelegenheiten

Der Attentäter war als Gefährder bekannt. Dennoch konnte er seinen tödlichen Plan umsetzen

05.03.2018
2023-08-30T12:34:25.7200Z
8 Min

Es war der 10. November 2016, als den in Nordrhein-Westfalen gemeldeten, seit längerem jedoch in Berlin wohnhaften Tunesier Anis Amri eine Mail mit angehängter PDF-Datei erreichte. Sie enthielt eine 143 Seiten umfassende Schrift mit dem erbaulichen Titel: "Die frohe Botschaft zur Rechtleitung für diejenigen, die Märtyrer-Operationen durchführen". Absender war der so genannte Islamische Staat (IS). Spätestens um diese Zeit muss Amri sich entschlossen haben, sein irdisches Dasein mit einem Massaker zu krönen, auf das er sich gewissenhaft vorbereitete, nicht nur organisatorisch, sondern sozusagen auch spirituell.

Vermutlich Anfang November hatte er auf einer Brücke im Berliner Stadtteil Moabit ein Bekennervideo aufgenommen, in dem er dem Kalifen Abu Bakr al Bagdadi die Treue gelobte und Drohungen gegen "Kreuzzügler" ausstieß: "Wir kommen zu euch, um euch zu schlachten, ihr Schweine." Sein geistlicher Mentor, der mittlerweile inhaftierte radikalislamische Prediger Abu Walaa, soll ihn zuvor in einer dreißigminütigen Privataudienz empfangen und ihm seinen Segen erteilt haben zur beabsichtigten Ermordung einer größtmöglichen Anzahl Menschen.

Mitte November hörte Amri auf, im Internet pornografische Seiten anzusteuern, was er bis dahin ausgiebig getan hatte. Er rief jetzt nur noch Botschaften radikalislamischen Inhalts ab. Insgesamt siebenmal besuchte er vom 22. November an den Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz. Er hatte andere Tatorte ebenfalls im Auge, erkundete den Alexanderplatz und den Lustgarten vor dem Berliner Dom. Bevor er sich am Nachmittag des 19. Dezember auf den Weg machte, besuchte er die Moabiter Fussilet-Moschee, die ihm in den Monaten seines Berlin-Aufenthalts zum geistlichen Zuhause geworden war. Aus dem Führerstand des Schwerlasters, mit dem er Minuten später durch eine Budengasse des Weihnachtsmarkts pflügen sollte, schickte er kurz vor 20 Uhr eine Nachricht an einen Gesinnungsgenossen: "Mein Bruder, alles in Ordnung, so Gott will. Ich bin jetzt im Auto. Bete für mich, mein Bruder, bete für mich!"

Kein Unbekannter Das alles haben in den Tagen und Wochen nach dem mit insgesamt zwölf Toten und 67 Verletzten bislang schlimmsten islamistischen Anschlag in Deutschland die Ermittlungsbehörden akribisch recherchiert. Auch dass Amri zum Zeitpunkt des Attentats mit Kokain abgefüllt war und damit offenbar doch eine Gewohnheit aus der Zeit vor seiner radikalislamischen Wende beibehalten hatte, ließ sich feststellen, als die Leiche des auf der Flucht von italienischen Polizisten erschossenen Täters obduziert wurde. Im verlassenen Führerhaus des Lastwagens fanden sich einen Tag später neben der Duldungsbescheinigung des Kreises Kleve für Anis Amri auch dessen Portemonnaie und Mobiltelefon. Durch die Auswertung der dort gespeicherten Daten waren Bewegungen und Aktivitäten in seinen letzten Lebenswochen exakt zu rekonstruieren. Bereits die Ermittlungen der ersten Tage erbrachten freilich noch eine andere, bestürzende Erkenntnis: Amri war den deutschen Behörden nicht unbekannt gewesen. Sie hatten ihn seit mehr als einem Jahr auf dem Radar. Im Oktober 2015 war durch den Hinweis eines V-Manns der Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen auf ihn aufmerksam geworden. Im Februar 2016 war erstmals in Berlin, im "Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum" (GTAZ) der deutschen Sicherheitsbehörden, von Amri die Rede, wo er als "Gefährder" identifiziert wurde, allerdings auf einer mit abnehmender Intensität von eins bis acht reichenden Skala lediglich auf Stufe fünf. Bis zuletzt waren sich die Zuständigen nicht sicher, für wie bedrohlich sie den Mann halten sollten. Im GTAZ, wo sein Fall im Laufe des Jahres 2016 siebenmal zur Sprache kam, lautete noch am 2. November die Einschätzung, dass "auf Grundlage der vorliegenden Erkenntnisse kein konkreter Gefährdungssachverhalt erkennbar ist".

Es hätte in den Monaten vor dem Anschlag wohl auch Gelegenheiten gegeben, Amri festzusetzen. Als er Mitte Februar 2016 aus NRW nach Berlin kam, nahm ihn die Polizei am Busbahnhof in Gewahrsam und beschlagnahmte sein Handy. Die Daten wurden im nordrhein-westfälischen Landeskriminalamt ausgewertet, allerdings nicht von Hand, sondern automatisiert. Dabei fielen einige brisante Fotos, auf denen Amri zu sehen war, wie er mit Waffen hantierte, durchs Raster. Ende Juli 2016 wurde Amri mit gefälschten Papieren auf dem Weg zur Schweizer Grenze aufgegriffen und saß zwei Tage lang in Ravensburg hinter Gittern. Danach ließ ihn in die baden-württembergische Polizei wieder laufen, weil ihr nicht bekannt war, was den Zuständigen in NRW und Berlin über ihn vorlag.

So bleibt die Frage: Wäre es nicht möglich gewesen, den Mann, der als Drogenhändler auffällig geworden war, gegen den 14 Ermittlungsverfahren unter anderem wegen Urkundenfälschung und Sozialhilfebetrugs anhängig waren, von dem die Behörden obendrein wussten, dass er mit IS-Terroristen in Kontakt stand und im Internet nach Anleitungen zum Bombenbasteln fahndete, rechtzeitig aus dem Verkehr zu ziehen? Die Frage hat mittlerweile zwei Sonderermittler in Nordrhein-Westfalen und Berlin beschäftigt. Sie beschäftigt derzeit zwei Landtagsausschüsse und von nun an auch einen Untersuchungsausschuss des Bundestages.

Anfang 2017 beauftragte die damalige rot-grüne Landesregierung in NRW, deren Innenminister Ralf Jäger der Meinung war, in der Behandlung Amris "bis an die Grenze des Rechtsstaats" gegangen zu sein, den Gießener Strafrechtsprofessor Bernhard Kretschmer mit der Untersuchung des Falles. Er präsentierte Ende März ein Gutachten, in dem er ganz im Sinne der Auftraggeber zu dem Urteil gelangte, dass die Behörden in NRW sich nichts vorzuwerfen hatten. Die dem Tunesier zur Last gelegten Delikte - Urkundenfälschung, Sozialhilfebetrug, Kleinhandel mit Rauschgift, Verstöße gegen das Aufenthaltsrecht - hätten nach geltender Rechtsprechung nicht ausgereicht, ihn in Haft zu nehmen: "Da ist nichts, womit man ihn strafrechtlich hätte fassen können." Obendrein sei Amri in Berlin leider für weniger gefährlich gehalten worden als in NRW: "Die Sicherheitsbehörden in NRW haben die Gefahr sehr ernst genommen. Das LKA hat alles getan."

Mittlerweile hatte im Düsseldorfer Landtag ein Untersuchungsausschuss die Arbeit aufgenommen, den die damalige Opposition von CDU, FDP und Piraten im Februar 2017 gegen den Widerstand der Koalition erzwungen hatte, und der bis zum Ende der Legislaturperiode in 19 Sitzungen 44 Zeugen hörte. Der im Mai neu gewählte Landtag bildete dann einen weiteren Amri-Ausschuss, der im Oktober an den Start ging. In Berlin setzte das Abgeordnetenhaus im Juli 2017 einen Untersuchungsausschuss ein, zu einem Zeitpunkt, als der einstige Bundesanwalt Bruno Jost schon drei Monate lang als Sonderermittler im Auftrag des Berliner Senats tätig war.

Im Sommer präsentierte Jost einen Zwischenbericht und darin auch ein pikantes Detail über eine offenkundige Vertuschungsaktion von Berliner Polizeibeamten, die wohl in der Absicht, eine versäumte Gelegenheit zur Festnahme Amris nachträglich zu kaschieren, ein amtliches Schriftstück manipuliert hatten. Am 1. November 2016 hatte eine Kommissarin des Landeskriminalamts einen Bericht in den Polizeicomputer eingestellt, in dem sie Amri auf der Grundlage von 73 abgehörten Telefonaten "gewerbs- und bandenmäßigen" Drogenhandel bescheinigte. Wäre dieses Dokument damals der Staatsanwaltschaft zugegangen, hätten die Vorwürfe aller Wahrscheinlichkeit nach für einen Haftbefehl ausgereicht. Weitergegeben wurde es indes erst einen Monat nach dem Anschlag am 19. Januar 2017, und zwar in einer deutlich entschärften, obendrein auf den 1. November rückdatierten Fassung. Die Rede war jetzt nur noch von "Kleinsthandel mit Betäubungsmitteln".

In seinem im Oktober 2017 vorgelegten Abschlussbericht gab sich der Sonderermittler Jost um einiges weniger nachsichtig als vor ihm der Strafrechtler Kretschmer in NRW. Jost diagnostizierte "grobe Fehler, die nicht hätten vorkommen dürfen". Insbesondere bei der vorübergehenden Festnahme Amris Ende Juli 2016 in Baden-Württemberg sei "alles falsch gemacht" worden, "was man falsch machen kann". Damals hätte nach Josts Ansicht die "sehr realistische Chance" bestanden, Amri für längere Zeit hinter Gitter zu bringen. Die Polizei habe sich aber nicht die Mühe gemacht, ihren Zufallshäftling eingehend zu überprüfen: "Amri war einer der Gefährder, die im GTAZ so oft und intensiv besprochen wurden wie kaum ein anderer. Und dann kann man nicht so tun, als ob man da einen Eierdieb festgenommen hätte."

Zu den Folgen des Anschlages zählte auch eine Debatte über den Umgang des Staates mit Opfern und Angehörigen. In einem offenen Brief an die Kanzlerin beschwerten sich einige von ihnen wenige Wochen vor dem ersten Jahrestag des Massakers über behördliche Kaltherzigkeit und Regierungsversagen. Sie beklagten, dass es keinen würdigen Staatsakt zum Gedenken an die Opfer gegeben habe, lediglich einen interreligiösen Gottesdienst in der Gedächtniskirche, an dem die Spitzenvertreter der Republik schweigend teilnahmen, und zu dem Hinterbliebenen aus Sicherheitsgründen sogar der Zutritt verwehrt wurde.

Das Justizministerium hatte Mitte März 2017 den früheren Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz, Kurt Beck, zum "Bundesbeauftragten für die Opfer und Hinterbliebenen des Terroranschlags auf dem Breitscheidplatz" berufen, der im Dezember seinen Abschlussbericht vorlegte. Er schlug darin unter anderem höhere Entschädigungsleistungen vor. Auch solle die Regierung eine zentrale Anlaufstelle für Betroffene schaffen.

14 Identitäten Der spätere Attentäter Amri war 2011 aus Tunesien illegal nach Italien eingereist. Er kam dort nach kurzer Zeit wegen Brandstiftung in Haft und verbüßte eine vierjährige Gefängnisstrafe. Davon wussten die deutschen Behörden allerdings nichts, als Amri im Juli 2015 als Asylbewerber in Freiburg auftauchte, denn die Italiener hatten unter anderem versäumt, seine Fingerabdrücke in das europaweite Datennetzwerk "Eurodac" einzuspeisen. In der Folge tourte Amri unter 14 verschiedenen Identitäten durchs Land, ließ sich an mehreren Orten registrieren und landete so schließlich in Nordrhein-Westfalen.

Spätere Ermittlungen ergaben, dass Amri bereits bei der Einreise nach Deutschland von einem IS-Terroristen begleitet worden sein soll. Er habe in Verbindung mit Gruppen des "Islamischen Staates" gestanden, die in Libyen aktiv waren, und erstmals im Dezember 2015 versucht, sich im Internet über die handwerkliche Ausführung tödlicher Anschläge kundig zu machen. Im Februar 2016 erfuhr das Landeskriminalamt von Nordrhein-Westfalen, Amri habe sich unter dem Decknamen "Dougma" dem IS als Selbstmordattentäter angeboten und sei angewiesen worden, "einen nicht bekannten Tatplan in die Tat umzusetzen". Einen Monat später sollen die Behörden in NRW darauf gedrängt haben, den Tunesier schnellstmöglich abzuschieben, da "nach den vorliegenden belastbaren Erkenntnissen zu prognostizieren ist, dass durch Amri eine terroristische Gefahr in Form eines (Selbstmord)-Anschlags ausgeht".

Beschattung nur wochentags Zu diesem Zeitpunkt hatte der Mann seinen Lebensmittelpunkt indes schon nach Berlin verlegt und hielt sich nur noch sporadisch in NRW auf. Die Berliner Behörden ließen ihn von März bis Juni 2016 beschatten, allerdings nur tagsüber und nicht an Wochenenden und Feiertagen. Im September wurde auch die Telefonüberwachung eingestellt; es hatte sich kein Hinweis finden lassen, dass sich Amri mit Anschlagsplänen trug, und so beruhigten sich die Zuständigen mit der Vermutung, er habe sich gänzlich dem Drogenhandel zugewandt.

Seit Juni 2016 war Amris Asylantrag rechtskräftig abgelehnt. Gegen seine Abschiebung sperrten sich jedoch die tunesischen Behörden, die erst behaupteten, mit dem Mann nichts zu tun zu haben, dann darauf bestanden, einen Handabdruck Amris zu erhalten. Dass dem LKA ein solcher Abdruck vorlag, wusste aber die Ausländerbehörde in Kleve nicht; es kam erst im Zuge der Ermittlungen 2017 ans Licht. Am 5. Oktober 2016 schrieb Amri seinem IS-Kontaktmann: "Ich will zu euch auswandern. Sag mir, was ich tun soll." Der IS hatte eine andere Verwendung für ihn.

Es ist viel darüber gerätselt worden, wie Amri sich so weitgehend unbehelligt durch Deutschland bewegen konnte. War es denkbar, dass er in einem nachrichtendienstlichen Kalkül eine Rolle spielte? Der Grüne Hans-Christian Ströbele hielt es für möglich, dass US-Geheimdienste an seinen Kontakten zum IS in Libyen interessiert gewesen sein könnten, um Zielkoordinaten für ihre Drohnenattacken zu gewinnen. Hat der Verfassungsschutz, wie der Liberale Wolfgang Kubicki mutmaßte, signalisiert: "Lasst den mal laufen, wir brauchen den"? Tatsächlich hatte Amri im Umfeld des Predigers Abu Walaa Kontakt mit einem V-Mann des Landeskriminalamts in NRW. Dieser, ein gewisser "Murat", soll ihn und andere Salafisten zu Anschlägen ermuntert haben.