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VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN : »Perfide Pläne«

Der Amerikanist Michael Butter über ihre Entstehung und ihren Einfluss auf die Politik

19.03.2018
2023-08-30T12:34:26.7200Z
5 Min

Der Abschuss eines Flugzeugs der Malaysia Airlines über der Ukraine hat nie stattgefunden, er wurde vom Westen arrangiert, um Russland als Aggressor dastehen zu lassen. Eine "internationale Finanzoligarchie" plant in Europa den "großen Bevölkerungsaustausch", sie "flutet" den Kontinent systematisch mit "Afrikanern und Orientalen", um an billige Arbeitskräfte zu kommen. Die Deutschen sind mangels Friedensvertrag immer noch "Reichsbürger" und die Ermordung John F. Kennedys war eine perfide Inszenierung, ebenso wie die Mondlandung und die Anschläge vom 11. September: Michael Butter, Professor für Amerikanistik an der Universität Tübingen, forscht seit Jahren über die Geschichte und Verbreitung solcher Verschwörungstheorien. Er hat das EU-Projekt "Comparative Analysis of Conspiracy Theories" mitangestoßen, in dem ein interdisziplinäres Team aus 39 Ländern zusammenarbeitet. Jetzt hat Butter ein gut lesbares Sachbuch zum Thema vorgelegt:

Herr Butter, wie definieren Sie Verschwörungstheorien?

Drei Charakteristika kennzeichnen Verschwörungstheorien. Erstens: Nichts geschieht durch Zufall. Das heißt, es gibt angeblich eine im geheimen operierende Gruppe, die Verschwörer, die alles, was geschieht, geplant haben. Zweitens: Nicht ist, wie es scheint. Das heißt, man muss unter die Oberfläche schauen, um die wahren Verhältnisse zu erkennen. Tut man das, dann erkennt man als drittes: Alles, oder fast alles, ist miteinander verbunden. Die Einführung des Euro, Gender Mainstreaming und die Flüchtlingskrise erscheinen dann als Teil eines perfiden Gesamtplans.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass der Begriff zum Teil falsch verwendet wird.

Nicht alles, was so genannt wird, weist die drei Charakteristika auf. Der Begriff kann wissenschaftlich-neutral verwendet werden, aber eben auch als Mittel der Delegitimierung, um unliebsame Gedankengebäude zu disqualifizieren. Kaum jemand bezeichnet sich selbst als Verschwörungstheoretiker, denn das sind immer die anderen. Die englischsprachige Forschung bezeichnet diese Taktik als "Reverse labeling": Man bedient sich des Etiketts, das die Gegner einem selbst anheften wollen, und tut deren Behauptungen als Verschwörungstheorie ab. Die eigenen Verdächtigungen hingegen werden als wohlbegründet und im Grunde schon erwiesen präsentiert.

Sind Verschwörungstheorien etwas historisch Neues?

Die ersten Verschwörungstheorien entstanden, soweit wir heute wissen, irgendwann zwischen Früher Neuzeit und Aufklärung. Denn erst da sind die notwendigen Bedingungen gegeben: Ein Menschenbild, das Subjekten entsprechende Handlungsfähigkeit zuschreibt, eine lesende Öffentlichkeit, in der solche Theorien zirkulieren können, und der Buchdruck, der es erlaubt, die entsprechenden Texte zu verbreiten. Zunächst spielen in den Szenarien noch Gott und der Teufel eine große Rolle, aber ab dem 18. Jahrhundert finden wir die üblichen Verdächtigen, um die es auch in der Gegenwart noch oft geht, zum Beispiel den Geheimbund der Illuminaten oder die Freimaurer.

Sie sind Amerikanist. Gibt es in den Vereinigten Staaten eine besondere Neigung zu Verschwörungstheorien?

Vor zehn Jahren hätte ich diese Frage noch mit einem klaren "Ja" beantwortet. Mittlerweile wissen wir, wie wichtig Verschwörungstheorien auch in der europäischen Geschichte waren und es immer noch sind. Fakt ist aber, dass in den USA deutlich mehr Menschen an so etwas glauben als in Deutschland. Neueren Umfragen zufolge hängt dort jeder zweite Bürger mindestens einer Verschwörungstheorie an. Wir denken vielleicht an die Anhänger von Donald Trump, aber das sind nicht die einzigen.

In einem EU-Projekt kooperieren über hundert Forscher zum Thema. Wo liegen die Unterschiede innerhalb Europas?

In Mittel-, West- und Nordeuropa sind Verschwörungstheorien seit den 1950er Jahren stigmatisiert. Sie sind zwar weiterhin für viele attraktiv, aber sozial nicht akzeptiert. In Ost- und Teilen von Südeuropa ist das anders, dort verbreiten fast alle Politiker und große Teile der Medien ständig Verschwörungstheorien. Denken Sie nur an die ungarische Regierung unter Viktor Orban, die behauptet, der US-Finanzinvestor George Soros wolle Millionen Migranten in Europa ansiedeln, um die "nationale und christliche Identität" des Kontinents auszulöschen. Die Theorie vom Weltenlenker Soros knüpft ganz offen an alte antisemitische Hetzkampagnen an - der Angegriffene ist ja ein in Ungarn geborener Jude.

Das Internet gilt als eine Art Brandbeschleuniger für einfache Welterklärungen. Sind Verschwörungstheorien vor allem ein Netzphänomen?

Nein. Das Internet hat Verschwörungstheorien nur wieder sichtbarer gemacht und dadurch auch zu einem Anstieg an "Gläubigen" geführt. Der ist aber nicht so rapide, wie es uns manchmal vorkommt. Verglichen mit der Zeit vor hundert oder zweihundert Jahren glauben heute sogar eher weniger Menschen an Verschwörungstheorien. Ihre Verbreitung reicht allerdings bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein.

Schaut man auf Netzeinträge etwa zum 11. September 2001, fällt auf, dass überwiegend Männer dazu posten. Sind diese besonders anfällig für abstruse Gedankenkonstrukte?

In der Gegenwart auf jeden Fall. Das liegt daran, dass Verschwörungstheorien einem erklären, warum die Dinge falsch laufen. Und die männliche Identität ist in den letzten Jahrzehnten deutlich heftiger erschüttert worden als die weibliche. Daher neigen momentan insbesondere diejenigen zu Verschwörungstheorien, die Verlustängste spüren und daher auch die populistischen Bewegungen der Gegenwart tragen: Weiße Männer über 40. Das ist genau jene demografische Gruppe, die Trump ins Amt gebracht hat und die auch bei Pegida mitmarschiert.

Beeinflussen Verschwörungstheorien die Politik?

In Gesellschaften, in denen Verschwörungstheorien als legitimes Wissen gelten, tun sie das ganz massiv. Sowohl der amerikanische Unabhängigkeitskrieg als auch der spätere Bürgerkrieg wurden zu einem beträchtlichen Teil von solchen Theorien mitverursacht. Für die puritanischen Siedler zum Beispiel waren alle, die sich ihnen entgegenstellten, Teil eines teuflischen Komplotts, das galt für die Indianer genauso wie für die Quäker oder die französischen Katholiken in Kanada. In der amerikanischen Kultur galten Verschwörungstheorien noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg als völlig legitim. Die Mehrzahl der US-Präsidenten glaubte daran, von Washington über Lincoln bis Eisenhower. Aber selbst bei uns, wo diese spätestens seit den Erfahrungen im Nationalsozialismus stigmatisiert sind, bleiben sie nicht ohne Effekt. Die Verschwörungstheorien, die unter vielen Pegida- oder AfD-Anhängern verbreitet sind, beeinflussen, wie diese Bewegungen Politik machen und somit indirekt auch den gesamtgesellschaftlichen Diskurs.

Gibt es einen klaren Zusammenhang zwischen Verschwörungstheorien und rechtem Populismus ?

Ja. Verschwörungstheorien und Populismus haben viele strukturelle Gemeinsamkeiten. Beide vereinfachen zum Beispiel das politische Feld in zwei Gruppen: Volk und Elite beziehungsweise Opfer der Verschwörung und Verschwörer. Letztendlich liefern Verschwörungstheorien nur eine spezifische Erklärung für das Verhalten der Eliten, das der Populismus allgemeiner kritisiert. Die Eliten sind dann nicht nur abgehoben oder individuell korrupt, sondern gleich Teil eines Komplotts. Entsprechend können populistische Bewegungen Verschwörungstheoretiker wunderbar integrieren. Diese stimmen mit den Nichtverschwörungstheoretikern in fast allem überein.

"Alternativen Fakten" aus dubiosen Blogs oder Foren schenken manche mehr Glauben als den Recherchen seriöser Medien, die als "Lügenpresse" beschimpft werden. Was kann man tun gegen Verschwörungstheorien?

Empirische Experimente zeigen: Wenn man überzeugte Verschwörungstheoretiker mit schlüssigen Gegenargumenten konfrontiert, halten sie danach noch fester an ihrem Gedankengebäude fest. Es ist schwer, an wirklich "Gläubige" heranzukommen. Wenn man überhaupt diskutieren will, sollte man sehr niedrigschwellig und eher emotional einsteigen. Oft geht es um Anerkennung, darum, ernst genommen zu werden. Gleichzeitig muss man ansetzen bei den Zweiflern, die noch nicht vollständig von solchen Theorien überzeugt sind, und überhaupt für eine gute Bildung sorgen: Wissen darüber, wie moderne Gesellschaften funktionieren, und Medienkompetenz sind das allerwichtigste.

Der Autor arbeitet als freier Journalist und Buchautor in Köln.