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kanzlerwahl : Es darf regiert werden

Angela Merkel geht in ihre vierte Amtszeit. Das Bundeskabinett steht

19.03.2018
2023-08-30T12:34:26.7200Z
5 Min

Es war 9.55 Uhr am vergangenen Mittwoch, als Kanzlerin Angela Merkel (CDU) im Bundestag erneut ins Amt gewählt wurde. Fröhlich lächelnd und viele Hände schüttelnd war sie am Morgen mit weißem Jackett im bunten Plenarsaal-Gewimmel erschienen, scheinbar unaufgeregt und zuversichtlich. Über 100 akkreditierte Journalisten verfolgten mit Spannung die Wahl im Reichstagsgebäude, die Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) schnörkellos eröffnete, als wäre das ein ganz gewöhnlicher Sitzungstag.

Alexander Dobrindt (CSU) befand: "Die Stimmung ist gut." Die künftige Agrarministerin Julia Klöckner (CDU) räumte ein, sie sei aufgeregt. Andrea Nahles (SPD) verkündete: "Ich bin erleichtert und freue mich, dass es losgeht." Spitzenleute von Linken, Grünen, FDP und AfD gaben in den Fluren pausenlos Interviews und bekundeten ihre Zweifel, ob die Koalition zukunftsfähig sein könne. Der gescheiterte Ex-SPD-Vorsitzende Martin Schulz saß in den weiten Stuhlreihen und grübelte.

Die CDU-Chefin nahm bei der geheimen Wahl die nötige Hürde von 355 Stimmen, die Kanzlermehrheit, allerdings ohne komfortablen Vorsprung. Mit nur 364 Ja-Stimmen erhielt sie 35 Stimmen weniger, als die Koalition Mandate hat. 315 Abgeordnete votierten mit Nein, neun enthielten sich. Merkel nahm es gelassen, ließ sich beglückwünschen und bekam Blumen. Auf der Tribüne klatschten ihre Mutter Herlind Kasner und auch ihr Mann Joachim Sauer. Im Foyer versuchten sich Abgeordnete an einer Deutung, wer denn Schuld hatte am schlechten Ergebnis. Beobachter sprachen von einer "Schrecksekunde".

Der Abschluss der Regierungsbildung ist auch ein Hin und Her zwischen Bundestag und Schloss Bellevue, wo Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Ernennungsurkunden erst an die Kanzlerin und später an die 15 Minister übergab. In einer kurzen Ansprache mahnte er, die Große Koalition müsse sich nun "neu und anders bewähren" und so verlorenes Vertrauen zurückgewinnen. "Ein schlichter Neuaufguss des Alten" werde nicht genügen.

Amtseid Um 12 Uhr nahm Schäuble der Kanzlerin den Amtseid ab, den sie mit dem Zusatz "so wahr mir Gott helfe" sprach. Ein Lächeln verriet, wie wichtig ihr der Augenblick gewesen sein mag. Es hätte ja ganz anders kommen können. Schäuble gab ihr gute Wünsche mit auf den "schweren Weg". Zornig rügte er sodann den AfD-Abgeordneten Petr Bystron, der seinen Stimmzettel fotografiert und ins Netz gestellt hatte. Schäuble verhängte deswegen ein Ordnungsgeld von 1.000 Euro. Die neuen Minister leisteten später am Nachmittag ihren Amtseid, die meisten auch mit Gottesbezug.

Nun sind wir also wieder Groko. Lange hatte es nicht so ausgesehen, als könnten sich CDU, CSU und SPD nochmals zusammenraufen. Nach einer abrupt beendeten "Jamaika"-Sondierung von Union, Grünen und FDP, schwierigen Koalitionsverhandlungen und einer heiklen Mitgliederabstimmung der SPD ist Merkel nach 171 Tagen zwischen Wohl und Wehe in ihrer vierten Amtszeit angekommen, vermutlich ihrer letzten. Ob sie einen Plan B hatte, falls es nicht klappen würde? Wer weiß.

Die SPD dürfte mit zwiespältigen Gefühlen in die neue Amtszeit gehen. Zwar hat die Partei seit einem Jahr viele Mitglieder gewonnen, die sich zunächst euphorisch in den "Schulz-Zug" setzten, der sodann mitten auf der Strecke entgleiste. Die Umfragen verheißen jedoch schon seit Monaten nichts Gutes. Mit Zustimmungswerten zwischen 16 und 18 Prozent liegt die älteste Partei Deutschlands derzeit auf einem Niveau, das dem Anspruch an eine Volkspartei rein rechnerisch nicht mehr gerecht wird. Das noch von Schulz initiierte Mitgliedervotum ging mit rund 66 Prozent Zustimmung zum Koalitionsvertrag erstaunlich glatt durch. Was bleibt ist die Erkenntnis, dass die SPD in der Frage Groko oder Opposition gespalten ist, obwohl viele sozialdemokratisch bedeutsame Punkte in den Koalitionsvertrag hineinverhandelt und wichtige Ministerien für die SPD gesichert werden konnten.

Groko-Gegner Die Hochspannung über den Ausgang des Mitgliedervotums hielt bis zur Veröffentlichung des Ergebnisses am Morgen des 4. März im Willy-Brandt-Haus. Niemand wollte sich vorher festlegen, wie das Abenteuer ausgehen würde, nachdem Juso-Chef Kevin Kühnert so vehement gegen die Groko getrommelt hatte. Als der für die Auszählung zuständige SPD-Schatzmeister Dietmar Nietan das Ergebnis bekannt gab, folgte beklemmende Ruhe. Kein Jubel, kein Applaus, nichts, nur die Apparate der Fotografen rasselten leise.

Auf den Rängen standen SPD-Mitarbeiter neben Parteigrößen wie der designierten Vorsitzenden Nahles und guckten stumm auf die Statue Brandts herunter. Später hieß es, mit der Stille nach dem Sturm solle Rücksicht genommen werden auf jenes Drittel der Partei, das den Koalitionsvertrag abgelehnt hat. Der kommissarische Vorsitzende Olaf Scholz, künftig mächtiger Bundesfinanzminister und Vizekanzler, verkündete fast trotzig, die SPD sei durch die Groko-Debatte weiter zusammengewachsen.

Taktisches Geschick Während die SPD einen harten Kampf mit sich selbst führte, gelang der CDU überraschend schnell die Rückkehr in gewohnte Rituale, nachdem in der Partei Zweifel an Merkels Führungsstil laut geworden waren. Auf einem Sonderparteitag am 26. Februar votierten die Delegierten mit großer Mehrheit für den Koalitionsvertrag. Nur 27 der 975 Mitglieder waren dagegen. Merkels neue Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer, bisher Regierungschefin im Saarland, erzielte mit 99 Prozent Zustimmung einen Traumwert.

Zu dem Zeitpunkt wussten die CDU-Mitglieder schon, mit welcher Mannschaft Merkel in die Koalition gehen will. Solche Personalentscheidungen stellen einen Balanceakt dar mit Regeln, die nirgendwo hinterlegt sind. Der Regionalproporz spielt eine große Rolle, der Frauenanteil und die Generationenfrage. Parteichefs umgeben sich gerne mit Vertrauten, aber nicht immer gibt die Freundschaftskarte auch den Ausschlag. Von Merkel wird gesagt, sie verstehe es, Gegenspieler einzubinden. Beobachter werteten die Entscheidung, Jens Spahn (37) das Gesundheitsressort zu übertragen, als gelungenes taktisches Manöver.

Von taktischer Raumaufteilung versteht auch CSU-Chef Horst Seehofer etwas, der als "Superminister" für Inneres, Bauen und Heimat nach Berlin wechselt und kurz vor der Vereidigung des Bundeskabinetts zugunsten seines Dauerrivalen Markus Söder das Ministerpräsidentenamt in Bayern aufgab. Mit Dorothee Bär (39) als neuer Staatsministerin für Digitales gelang ihm zudem ein kleiner Knüller. Dass die bisherige Staatssekretärin im Bundesverkehrsministerium sogleich öffentlich von "Flugtaxis" schwärmte, die als "Vision" genauso wichtig seien wie schnelle Internetverbindungen, brachte ihr große Bekanntheit ein - und reichlich Spott im Internet.

Ein Coup Den größten Spannungsbogen bot mal wieder die SPD, die als letzte der drei Regierungsparteien ihr Tableau bekanntgab und auch einen Coup zu bieten hatte. So ist die weitgehend unbekannte und als sehr resolut geltende Bezirksbürgermeisterin aus Berlin-Neukölln, Franziska Giffey (39), neue Bundesfamilienministerin (das ganze Kabinett auf den Seiten 4 und 5). Die aus Frankfurt/Oder stammende Verwaltungsexpertin soll neben dem neuen Ostbeauftragten Christian Hirte (41) aus Thüringen in der Koalition auch die Ost-Kompetenz stellen.

Nach den vielen jähen Wendungen, Streitereien und Unsicherheiten wirkte die Zeremonie zur Unterzeichnung des Koalitionsvertrages am vergangenen Montag im Paul-Löbe-Haus des Bundestages feierlich und harmonisch. Hunderte Mitarbeiter säumten die Balustraden in dem lang gestreckten Glasbau, als um 14.05 Uhr zuerst die Generalsekretäre, dann die Fraktionschefs und schließlich die Parteichefs ihre Unterschrift unter den Vertrag setzten.

Merkel, Seehofer und Scholz versicherten sich gegenseitig, verlässlich kooperieren zu wollen und bis zum Ende der Legislaturperiode durchzuhalten. Die Kanzlerin fügte lächelnd hinzu: "Wenn dann noch eine Portion Freude dazu kommen könnte am Gestalten, dann kann das eine gute Regierungsarbeit werden." Die Parteichefs wollen nun Zeit wettmachen und mit Volldampf loslegen. Merkel stellte mit Blick auf das Regierungsprogramm fest: "Eigentlich drängt fast alles." Und erinnerte ihren Finanzminister gleich mal an den Haushalt 2018, den es rasch aufzustellen gelte. Scholz nickte willig.