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pflege : Auf der Kippe

Experten warnen: Fachkräfte werden verschlissen

23.04.2018
2023-08-30T12:34:27.7200Z
3 Min

Auf den ersten Blick wirkte der junge Mann zwischen den altgedienten Sachverständigen im Gesundheitsausschuss, als hätte er sich verlaufen, saß aber seelenruhig da und ließ sich überhaupt nicht aus der Ruhe bringen. Fachkundig zitierte Alexander Jorde (22) Rechtsvorschriften und schilderte den Abgeordneten, was aus seiner Sicht in der Pflege schiefläuft. Seit der Pflegeauszubildende sich im Wahlkampf 2017 traute, der Kanzlerin die Misere seines Berufsstandes in drastischen Worten vor Augen zu führen, ist er ein bekannter und inzwischen auch im Bundestag gefragter Mann. Vergangene Woche saß Jorde gemeinsam mit Professoren und Verbandschefs als Sachverständiger in einer Anhörung zum Thema Pflege. Und wieder gab er sich so gar keine Mühe, die Probleme "auf Station" kleinzureden. Seiner Ansicht nach steht das System auf der Kippe. Jorde warnte, wenn sich für Patienten und Pflegekräfte die Lage nicht bald entscheidend bessere, sei der jetzige Pflegenotstand gemessen an dem, was noch komme, "pillepalle". Die Politik müsse "klare Anreize schaffen", um den Pflegeberuf attraktiver zu machen, finanziell und inhaltlich. Derzeit hätten Pflegekräfte gar keine Zeit, um im Dienst ihren eigenen Ansprüchen gerecht zu werden, das sei frustrierend und demotivierend.

Große Ansprüche Zur Debatte standen je zwei Anträge der Fraktionen Die Linke (19/30; 19/79) und Bündnis 90/Die Grünen (19/446; 19/447), die darauf abzielen, die Personalausstattung in der Pflege zu verbessern und damit auch die Arbeitsbedingungen. Dazu wird eine verbindliche Personalbemessung in Pflegeeinrichtungen eingefordert. Zudem sprechen sich Grüne und Linke dafür aus, mit dem Geld aus dem Pflegevorsorgefonds das Pflegepersonal aufzustocken. Union und SPD haben im Koalitionsvertrag ein Sofortprogramm Pflege mit 8.000 neuen Fachkraftstellen vereinbart. Als Gast im Gesundheitsausschuss machte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) vergangene Woche klar, dass die im Koalitionsvertrag vorgesehenen Verbesserungen in der Pflege mit Priorität angegangen werden. Angesichts der großen Einigkeit, dass etwas getan werden muss, geriet die Anhörung zu einer kritischen Bestandsaufnahme.

Nach Ansicht der Deutschen Stiftung Patientenschutz, die sich wie andere Verbände auch in einer schriftlichen Stellungnahme äußerte, ist die Pflegeversorgung "am Limit". Verbindliche Personalschlüssel seien überfällig, wobei eine gute Pflege an den Bedürfnissen der Patienten zu orientieren sei und nicht an Mindestanforderungen. Eine Vertreterin des Verbandes warnte zudem vor explodierenden Pflegeheimkosten.

Starke Belastungen Das Aktionsbündnis Patientensicherheit verwies auf die im internationalen Vergleich "ausgesprochen niedrige" Pflegekraftquote sowie die "hohen physischen und psychischen Belastungen der Pflegekräfte". Dies habe Auswirkungen auf die Patientensicherheit. Nach Angaben der Gewerkschaft Verdi gehört die hohe Teilzeitquote in der Pflege zu den großen Problemen der Branche. Zunehmend reduzierten Beschäftigte ihre Arbeitszeit, um ihre Gesundheit zu schützen. Tatsächlich werde die Gesundheit und Arbeitsfähigkeit der Pflegekräfte "messbar" verschlissen. Bessere Arbeitsbedingungen könnten "die Flucht in die Teilzeitarbeit stoppen".

Mehrere Sachverständige sprachen sich dafür aus, den Pflegevorsorgefonds aufzulösen, der kaum die erhoffte Beitragsstabilität entfalten werde. Die Schätzungen, wie viele Pflegestellen mit dem Geld finanziert werden könnten, gehen aber deutlich auseinander. Andere Sachverständige wollen an dem Fonds festhalten. Aus Sicht von Experten muss auch die Pflegebürokratie eingedämmt und die medizinische Behandlungspflege wieder komplett von der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) getragen werden.

Die im Koalitionsvertrag vereinbarte Ausgliederung der Pflegepersonalkosten aus den Fallpauschalen (DRG) im Krankenhaus ist nach Angaben des GKV-Spitzenverbandes aufwendig. Eine Änderung der Vergütungssystematik brauche eine ausreichende Vorbereitungszeit. Es dürfe zudem keinen Rückfall in die "ineffiziente Selbstkostendeckung" geben, hieß es. Mit der Einführung des DRG-Systems seien Anreize für ein wirtschaftliches Handeln gesetzt worden. Wesentlich sei, dass die in den DRG's kalkulierten Personalkosten auch tatsächlich für das Pflegepersonal eingesetzt und nicht für Sanierungen der Häuser zweckentfremdet würden. Eine Nachweispflicht sei somit unumgänglich.

Hohe Kosten Der Wirtschaftsexperte Jochen Pimpertz vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln ging auf die wachsenden Pflegekosten ein. Bis 2030 müsse mit 3,1 Millionen Pflegebedürftigen gerechnet werden, bis 2050 mit vier Millionen. Für das Jahr 2030 ergebe sich ein um mindestens 40 Prozent erhöhtes Ausgabenniveau, bis 2050 sogar eine Steigerung um 80 Prozent gemessen am Status quo.

Josef Hug, Pflegedirektor im Städtischen Klinikum Karlsruhe, warnte, wenn die Generation der Babyboomer in den nächsten zehn bis 15 Jahren in den Ruhestand gehe, fehlten den Kliniken bis zu 40 Prozent des derzeit eingesetzten Pflegepersonals. Hug sprach von einer der größten Herausforderungen bei der Personalgewinnung der kommenden Jahre. In der Anhörung fügte er hinzu, für die Krankenhäuser sei die geplante vollständige Gegenfinanzierung der Tarifsteigerungen von herausragender Bedeutung.