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entwicklung : »Richten wir den Blick über die Grenzen hinaus«

Etat steigt auf Rekordhöhe, doch der Ausblick auf 2019 vermiest vielen Fraktionen die Freude. Minister Gerd Müller (CSU) kritisiert deutsche Flüchtlingsdebatte

09.07.2018
2023-08-30T12:34:31.7200Z
4 Min

Ausgerechnet ein CSU-Kabinettsmitglied fand im Bundestag deutliche Worte für den wochenlangen und vom eigenen Parteichef, Bundesinnenminister Horst Seehofer, maßgeblich mitforcierten Unionkrach über die Migration. "Mich erschüttert die aktuelle deutsche Flüchtlingsdebatte, wie wir sie führen", offenbarte Entwicklungsminister Gerd Müller vergangene Woche in der zweiten Lesung seines Etats. Und er empfahl: "Richten wir doch den Blick einmal über die Grenzen der Europäischen Union hinaus." Auf die 270.000 Menschen beispielsweise, die in den vergangenen drei Tagen vor syrischen Bomben an die jordanische und israelische Grenze geflohen seien und nun in der Wüste ausharrten. Oder die mehr als zehn Millionen geflüchteten Kinder und Erwachsenen, die im Jemen um ihr Überleben kämpften. "Es fehlt an Geld, an Essen und an Verantwortung", warnte Müller und stellte klar: "Deutsche Politik kann nicht an den Grenzen Deutschlands oder Europas enden."

68,5 Millionen Menschen waren laut Uno-Flüchtlinghilfe 2017 weltweit auf der Flucht, so viele wie noch nie zuvor. Dass dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) angesichts dieser Zahlen mehr denn je eine Schlüsselfunktion zukommt, hat nicht nur Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mehrfach unterstrichen, sondern auch Ressortchef Müller immer wieder angemahnt. Mit Erfolg: Sein Haus kann 2018 einen Rekordhaushalt verbuchen. 9,4 Milliarden Euro und damit 900 Millionen Euro mehr als 2017 kann der Minister ausgeben - ein sattes Plus von mehr als zehn Prozent. Der Anteil der öffentlichen Entwicklungsausgaben am Bruttonationalprodukt ("ODA-Quote") wächst damit auf 0,5 Prozent und rückt deutlich näher an das international vereinbarte 0,7-Prozent-Ziel heran.

Mehr für Kirchen und Stiftungen Der Bundestag stimmte dem Regierungsentwurf (19/1700, 19/1701) mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen zu; der Haushaltsausschuss hatte die Vorlage nur geringfügig um 543.000 Euro erhöht (19/2420, 19/2424, 19/2425). "Vor einem Jahr hätte kein Mensch den nun vorliegenden Haushalt für möglich gehalten", lobte Gabi Weber (SPD) das Eregbnis. Ihre Fraktionskollegin Dagmar Ziegler begrüßte es, dass als Ergebnis der Bereinigungssitzung für die Bekämpfung von Polio zusätzlich drei Millionen Euro im BMZ-Etat eingestellt wurden und außerdem Stiftungen und Kirchen mehr Geld bekommen sollen. Volkmar Klein (CDU) bezeichnete den von Müller initiierten "Marshallplan mit Afrika" als "genau den Paradigmenwechsel, den wir brauchen". Nötig sei intensivere Hilfe und eine größere Wirksamkeit. "Und wir müssen sicherlich auch in den jeweiligen Ländern mehr einfordern."

Die Oppositionfraktionen lehnten den Etat trotz des hohen Aufwuchses ab - aus ganz verschiedenen Gründen. So würde die AfD die staatlichen Entwicklungsgelder lieber massiv reduzieren. Ulrich Oehme sprach von einer Versenkung" von Milliarden an Entwicklungsgeldern. Dabei zeige die Vergangenheit, dass davon kaum etwas ankomme. Er forderte ein "Zurückfahren beziehungsweise die Einstellung von Entwicklungshilfe für Staaten, die sich nicht an Vereinbarungen und Vorgaben halten - ausgeschlossen natürlich Nothilfe -, sowie die Streichung und Umverteilung der Ausgaben für kirchliche Organisationen, politische Stiftungen und bestimmte Nichtregierungsorganisationen".

Michael Georg Link (FDP) kritisierte indes, dass Auswärtiges Amt und BMZ ihre Maßnahmen oft nicht miteinander abstimmten und forderte mehr Kohärenz. Außerdem müssten deutlich mehr Mittel für internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen oder den Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria bereitgestellt werden statt auf bilaterale Projekte zu setzen.. "Solange das nicht geschieht, sagen wir nicht einfach Ja zu Erhöhungen", begründete der FDP-Politiker das Nein seiner Fraktion. Ähnlich argumentierte Uwe Kekeritz (Bündnis 90/Die Grünen). Der BMZ-Etat 2018 mutiere zum "Bollwerk bilateraler Zusammenarbeit", urteilte er, der multilaterale Anteil betrage gerade noch 20 Prozent. "Das ist eine klare Absage an die internationale Staatengemeinschaft." Globale Probleme löse man nur gemeinsam. Dem Minister warf Kekeritz vor, im Zuge des "Marschallplans mit Afrika", der Grenzmanagement und Rückführungen vorsieht, Entwicklungspolitik zur "Flüchtlingsabwehr" zu degradieren. Helin Evrim Sommer (Die Linke) wies auf darauf hin, dass der Anteil der ärmsten Empfängerstaaten an der deutschen Entwicklungszusammenarbeit seit Jahren schrumpfe. Außerdem sei die Tatsache, dass die Bundesregierung die Kosten für die Unterbringung von Flüchtlingen in die Entwicklungsausgaben mit einrechnet, "absurd". Das sei, "als würde man für einen Grillabend mit Freunden einkaufen, aber am Ende alles selber aufessen". Für ihre Fraktion verlangte Sommer "mehr legale Fluchtwege nach Europa, offene Grenzen für Menschen in Not und eine wirkliche Bekämpfung von Fluchtursachen".

Tritt auf die Bremse Für Unruhe sorgten bei fast allen Fraktionen und auch beim Minister selbst die Pläne von Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD). Laut dessen am Freitag vorgestellten Haushaltsplan für 2019 soll der BMZ-Etat ab dem kommenden Jahr wieder deutlich langsamer steigen. Konkret schlägt Scholz einen Aufwuchs von lediglich 280 Millionen Euro vor - das würde bedeuten, dass die deutsche ODA-Quote wieder unter 0,5 Prozent absinkt.

"Es kann nicht sein, dass gerade bei uns im Haushalt der Rotstift angesetzt wird", erboste sich Ressortchef Müller. Er bat die Abgeordneten, im Haushaltsverfahren Verantwortung zu übernehmen und die fehlenden Mittel in Höhe von 500 Millionen Euro auszugleichen. "Wir brauchen sie dringend, um dort, wo es notwendig ist, mehr tun zu können", mahnte er. Auch die SPD wandte sich gegen die Pläne ihres eigenen Ministers. "Meine Fraktion tritt gegen ein solches Absinken ein", betonte Dagmar Ziegler.

Anja Hajduk (Grüne) verwies auf den Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD, wonach die ODA-fähigen Mittel und die Mittel im Verteidigungshaushalt eins zu eins steigen sollen und fragte, warum das nun nicht mehr stattfinden solle. Linken-Politikerin Sommer warf der Bundesregierung vor, den eigenen Koalitionsvertrag zu brechen, "kaum dass die Tinte trocken ist".